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Die Gauklerin von Kaltenberg

Titel: Die Gauklerin von Kaltenberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Freidank
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nicht so streng sein. So mancher Bastard ist nicht zu verachten.«
    Ohne ihn anzusehen, erwiderte Raoul rau: »Nun, da ich keinen Anspruch auf Kaltenberg habe, wäre ich froh, meinen Vater we nigstens einmal zu sehen.«
    Der Graf stutzte. »Aber warum solltet Ihr keinen Anspruch auf Kaltenberg haben?«
    Langsam drehte sich Raoul zu ihm um.
    »Wo immer Konrad jetzt ist, ein Sühnepfand bleibt das Eigen tum des Besitzers«, erklärte Graf Görz. »Er kann seine Burg zu rückfordern, sobald die Frist abgelaufen ist. Und sie seinem legi timen Sohn anvertrauen.«
    Die Berge schienen näher zu rücken. Im Schatten der Mauer fühlte sich Raoul mit einem Mal bedrängt.
    »Die Sache mit dem Fluch ist allerdings ein Problem«, sprach der Graf aus, was Raoul befürchtet hatte. »Viele Menschen glauben an so etwas. Das käme Giftmischern und Meuchelmördern wie geru fen: Ihr wäret keinen Augenblick Eures Lebens sicher. Euer Vater wird Euch nur anerkennen, wenn Ihr diesen Fluch brecht.«
    Raoul starrte über den Hof. Wohin er auch gekommen war, hat ten ihm, dem Fremden, Hass und Verachtung entgegengeschla gen. Alles, was er getan hatte, hatte er getan, um anerkannt zu sein. Er hatte zu viel für dieses Ziel aufgegeben. Raoul wusste, dass er eine Möglichkeit hatte, den Fluch zu brechen: wenn er Anna tö tete. Aber das konnte er nicht. Es gab nur einen Weg, es zu vermei den: Sie durfte niemals nach Kaltenberg zurück.

13
    »Schnell, Herr!«, rief Anna den Subdiakon Hieronymus an, der morgens nach der Prim Schnee schaufelte. Hinter ihm erhob sich das trutzige Tor und der Rundbau der Michaelskapelle, und die ummauerte Straße schien länger denn je. Es war aussichtslos, den Schnee aus der Enklave zu schaffen, sie hätten Wagen und Zug tiere dazu gebraucht. Seit Wochen räumten sie nur noch die nö tigsten Wege frei und beteten, dass niemand stürzte und sich ein Bein brach.
    »Draußen auf der Straße!« Sie blieb stehen und hielt sich keu chend die Seite. Ihre Füße waren mit Bändern und Wollstreifen umwickelt, um sie warm zu halten. Aber längst waren sie völlig durchnässt. Der kalte Wind biss in ihr Gesicht und fuhr durch die unbedeckten Locken.
    Hieronymus bekreuzigte sich, umklammerte seine Schnee schaufel fester und begann wie ein Berserker zu arbeiten.
    »An der Straße liegt eine Frau«, stieß sie hervor. Anna war die Straße von Brixen heraufgekommen, wo sie Raouls Gürtel vom Silberschmied geholt hatte. Am Straßenrand hatte zerstampfter Schnee ihre Aufmerksamkeit geweckt. Dort hatte sie die Gestürzte an der Böschung zum Fluss liegen sehen. »Schnell!«, keuchte sie. »Sie muss schon eine Weile dort liegen. Bei diesem Wetter wird sie bis zum Hochamt erfroren sein!«
    Hieronymus war in einem winzigen Tiroler Dörfchen aufge wachsen, das erst seit kurzem durch einen Saumpfad zu erreichen war. Die lange eingeübten Instinkte waren stärker als die Angst vor Versuchungen. Er warf die Schaufel weg und rannte zur Pforte, um kräftige Laiendiener und den Medicus zusammenzutrommeln.
    Ungeduldigwartete Anna auf der Straße, schlug die kalten Hände ineinander und trampelte, um ihre tauben Zehen zu wär men. Es schien ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis die Männer end lich mit Schaufeln, Decken und anderem Gerät bereit waren.
    Sie war sich nicht sicher, ob sie die Frau in der unwirtlichen Einsamkeit wiederfinden würde. Wenigstens hatte es nicht mehr geschneit. Es war eine klare, kalte Nacht gewesen, die den Schnee knirschend hart gefroren hatte. Die Sonne gleißte auf der weißen Landschaft und blendete sie. Nur das verzweigte, mit Erlen ge säumte Bett des Eisack half ihr, sich zurechtzufinden.
    Aber ihre Spuren, die zum Fluss hinabführten, waren gut zu er kennen. Am Waldrand lief der Bauer, der vorhin Brennholz ge sammelt hatte. Jetzt sah sie von oben die Kleider der gestürzten Frau und ihr aufgelöstes Haar. »Hier ist es!«, rief sie ungeduldig.
    Bei dieser Kälte war jeder Augenblick kostbar. Anna kletterte den Hang hinab. Knapp oberhalb des Ufers lag sie noch immer: eine reich gekleidete ältere Frau. Der kupferbeschlagene Gürtel, Ketten und Ringe verrieten eine angesehene Kaufmannsfrau. Sie trug einen roten, grün gefütterten Surcot, und ihr pelzverbrämter Mantel hatte lange geschlitzte Ärmel mit Seidenstickerei. Dass sie das alles noch trug, bewies, dass sie keinen Wegelagerern in die Hände gefallen war. Nur ihre Kopfbedeckung hatte wohl der Fluss weggetragen. Anna legte die kältestarre Hand auf die Brust

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