Die Gauklerin von Kaltenberg
fertigbringen. Anna wollte an Raoul vorbei, doch er hielt sie mit dem ausgestreckten Arm zurück.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich dich allein gehen lasse.«
Überrascht blieb sie stehen. Seine Lippen zuckten unmerklich. »Ich werde mich den Äbten vorstellen müssen, mit denen ich in Zukunft verkehre. Und ich kann damit ebenso gut in Benedikt beuern anfangen wie sonst irgendwo.«
Verwirrt versuchte sie, in seinem Gesicht zu lesen. Er hatte ihr noch mehr zu sagen. Raoul hob ihr Kinn und sah ihr in die Au gen.
»Hast du nicht begriffen?«, fragte er ernst. »Ich werde nicht zu lassen, dass die Frau, die ich liebe, eine Hure genannt wird. Un sere Kinder sollen nicht als Bastarde aufwachsen.«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er nahm ihre Hände und legte sie auf seine Brust. »Das ist ein Eheversprechen.«
Einen unendlichen Augenblick lang spürte sie nur das Pochen seines Herzens unter ihren Fingern. Dann kam die alte Angst wie der.
»Und was sagt dein Vater dazu? Wenn du mich gegen seinen Willen heiratest, kannst du alles verlieren.«
Raoul legte ihr den Finger auf die Lippen. Ohne sich um seine Knechte zu kümmern, die sich grinsend anstießen, zog er sie an sich. »König Ludwig weiß, was du für ihn getan hast, und ich werde dafür sorgen, dass er nicht darüber hinweggeht. Und falls doch …«, sagte er mit dieser Stimme, die sie von Anfang an ge fesselthatte. »Man könnte mir die ganze Welt anbieten. Aber ohne dich an meiner Seite wäre sie wertlos für mich.«
Annas Lippen zitterten. Sie schloss die Augen und küsste ihn. Ein Schauer überlief ihn. Und als er ihre Küsse heftig erwiderte, wusste sie, dass er es ernst gemeint hatte: Wenn es ihm nicht ge lang, seinen Vater zu überzeugen, würde er seine Burg aufgeben. Für sie. Mit geschlossenen Augen spürte sie seinen Händen auf ihrem Körper nach, die sie festhielten.
Irgendwann wollte er zu seinem Pferd, aber sie schüttelte den Kopf und wies auf das Sühnekreuz.
Noch warfen die Wolken am goldroten Himmel ihre Schatten darauf, und es hob sich kaum aus der Landschaft. Bei Nebel und Dunkelheit würde man es nur schwer sehen können. Die Jahres zeiten würden darüber hinwegziehen. Der Stein würde löchrig werden, Wind und Stürme die Ränder abschleifen. Aber noch in Jahrhunderten würde es unverrückbar hier stehen und bezeugen, wie unabwägbar das Schicksal war.
Annas und Raouls Hände verschränkten sich ineinander. Sie wusste nicht, wohin dieses Schicksal sie tragen würde. Aber ganz gleich was es für sie bereithielt, Raoul würde bei ihr sein. Ob sie hier in Kaltenberg leben würden oder auf den Straßen, an den Höfen der Fürsten oder in erbärmlichen Dörfern: Sie würde ihre Freude weitergeben, jeden Augenblick zu genießen. Und die Worte, die sie über die Berge gebracht hatte, würden sie ihr Le ben lang begleiten – in eine Zukunft, die in der Dämmerung des anbrechenden Morgens nur zu ahnen war:
O fortuna velut luna statu variabilis.
DasGeheimnis de r Carmina Buran a
O fortuna velut luna – von der Fußball- WM über den Soundtrack großer Hollywood-Blockbuster wie Excalibur bis hin zur Wer bung: Jeder hat schon einmal die Carmina Burana gehört, viel leicht ohne es zu wissen. In der Vertonung des bayerischen Kom ponisten Carl Orff kamen sie zu Weltruhm, aber immer wieder greifen auch moderne Musikgruppen auf die Texte zurück. Vor zweihundert Jahren war die geheimnisvolle Handschrift die ein zige ihrer Art. Heute gehören ihre Lieder zu den bekanntesten Texten des Mittelalters.
Carmina Burana – das bedeutet Lieder aus Benediktbeuern . Aber bis heute weiß man nicht, wie sie eigentlich dorthin gekommen sind. Als im Jahre 1803 alle bayerischen Klöster ihre Tore der Sä kularisation öffneten, fand man das Buch in der Klosterbibliothek. Gegenwärtig wird es in der Staatsbibliothek München verwahrt. Und bis heute gibt es Rätsel auf.
Das meiste, was aus dem Mittelalter überliefert ist, stammt aus gebildeten Kreisen, also von Klerikern. Das bedeutet: von einem Bruchteil der Gesellschaft, der ausschließlich männlich war. In den Carmina geht es um das, was die anderen 99 Prozent getan haben: Sie entführen zu Bauerntänzen, zu Wirtshausschlägereien und Verliebten. In ihnen kommt eine Lebensfreude und eine Körper lichkeit zum Ausdruck, die völlig im Gegensatz zur angeblichen Jenseitsbezogenheit des Mittelalters steht.
Auch viele Lieder der Carmina Burana stammen von Klerikern wie dem Archipoeta. Aber
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