Die Gauklerin von Kaltenberg
ein wildes Tier lebte sie, dachte Anna. Aber trotzdem … Stärker denn je prickelte das Leben in ihren Adern. Selbst die Luft schmeckte intensiver hier draußen, wo kein Qualm sie beschwerte.
Alssie endlich rasteten, trieb der Durst Anna hinunter zum See. Hinter sich hörte sie die Gaukler bei ihrer Mahlzeit lachen. Zu mindest für den Augenblick hatten die Männer ihre Rivalität ver gessen. Auch ihr Magen knurrte, aber sie hatte nichts bei sich und wollte den anderen nicht beim Essen zusehen. Der See hatte ein tiefes, kaltes Blau, und dankbar zog sie die Decke, die ihr Falconet gegeben hatte, fester um die Schultern. Sie trank gierig. Am Hori zont über dem Wasser waren die Zugspitze und die Ammergauer Berge längst tief verschneit. Im Rittersaal auf Kaltenberg brannte jetzt ein warmes Kohlenbecken, dachte sie sehnsüchtig. Ulrich hätte sie heimlich in die Arme genommen und sie geküsst …
Das Schilf raschelte, Schritte näherten sich. Steffen ließ sich bei ihr nieder. »Nun hab dich nicht so«, hielt er sie zurück, als sie auf stehen wollte. »Ich bin gut darin, gebrochene Herzen zu trösten.«
»Ich brauche keinen Trost«, erwiderte Anna schroff. Männer seines Standes hatten nicht den besten Ruf, und er hatte sie schon gestern begafft. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können, sich abseits zu setzen! Wenn sie so weitermachte, würde sie nicht lange überleben.
»Wie du willst. Ich dachte, du wolltest etwas über das Lied wis sen.«
Langsam ließ Anna sich wieder nieder. Misstrauen und Neu gierde stritten in ihr. Jeder Teil seines Gesichts hätte für sich gut ausgesehen, aber da alles zu groß geraten war, wirkte es grob. Der Bursche wirkte, als sei er hinter jedem Rock her und hätte ansons ten bestenfalls Fressen und Bier im Kopf. Aber er hatte behauptet, er sei Mönch in Steyr gewesen. Und sie hatte ihn schon im Ver dacht gehabt, mehr zu wissen, als er zugab.
Breitbeinig flegelte sich Steffen neben sie ans Ufer und protzte in stockendem Latein: » Meum pectus sauciat puellarum decor. Et quas tactu nequeo saltem corde mechor .«
Anna verstand nichts. Aber es war derselbe Rhythmus wie in Falconets Lied.
»Ichbin ganz wild auf hübsche Mädchen« , übersetzte er grinsend. »Die ich nicht leibhaftig haben kann, mit denen treib ich’s in Gedanken .«
Vielleicht war sein Maul größer als das, was unter seiner Cotte steckte, aber so genau wollte sie es nicht wissen. Anna wollte auf springen, doch er packte ihre Handgelenke und versuchte sie rücklings ins Schilf zu zwingen. Erschrocken versuchte sie sich zu befreien. Der Schlamm durchnässte ihre Kleider. Steffens Gesicht glitt über ihres, und sie spürte seinen Atem, der nach Bier roch. »Jetzt zier dich nicht so! Du wirst deinen Spaß haben, und danach sage ich dir, was ich weiß.«
Keuchend tastete Anna nach ihrem Beutel. Ihre Hand klam merte sich um das Messer, das sie Raoul entwendet hatte, und sie hielt es ihm an die Kehle. »Verschwinde!«
Er grinste. »Heißt das, du bist einverstanden?«
»Ich meine es ernst.« Anna drückte das Messer fester in sein Fell. Entschlossen versetzte sie ihm einen leichten Schnitt.
»Verdammtes Dreckstück! Du bringst mich ja um!« Mit einem Sprung kam Steffen auf die Beine. Ein erstickter Schrei, und er fasste sich an den Rücken, an eine Stelle weiter unten. Mit un verhohlener Genugtuung bemerkte Anna, wie seine Beine nach gaben und er nach Luft schnappte. Sie brach in ein ungehemmtes Lachen aus.
»Zum Teufel mit dir! Du hast mich verhext!«, quetschte er her vor.
»Schon möglich«, prustete sie. »Also fass mich besser nicht mehr an.«
Steffens schmerzverzerrtes Gesicht verriet, dass er dazu auch kaum in der Lage gewesen wäre. Anna sprang auf und packte sei nen Arm, um ihn aufzurichten. Er schrie auf bei der unsanften Be rührung.
»Ein Hexenschuss. Wahrscheinlich ist die Kälte schuld«, be merkte Eva, die vom Geschrei angelockt herüberkam. Ihr verstoh lenes Grinsen verriet, dass sie begriffen hatte.
Fluchendraffte er sich auf und hielt sich den Rücken. »Eva hatte recht. Was sollen wir dich durchfüttern?«, schrie er sie an. »Wenn du kein Geld heranschaffst, musst du dich eben so nützlich ma chen!«
Anna bedauerte, dass sie ihn nicht auch noch in weit empfind lichere Teile getreten hatte. »Du siehst doch, was dabei heraus kommt!«
Falconet ging über den Zwischenfall hinweg. Entweder er wollte Steffen nicht klarmachen, dass er sie in Ruhe lassen sollte, oder der Lotterpfaffe würde
Weitere Kostenlose Bücher