Die Gauklerin von Kaltenberg
ru hig auf dem Sattel.
Sie hatte ihn also mit dem Opium nicht umgebracht. Im Gegen teil, er wirkte geradezu unverschämt bei Kräften. Anna dachte dar an, wie er sie geküsst hatte. Hass und Scham jagten eine Hitze welle durch ihren Körper. Zitternd stand sie an den kalten Pfeiler gepresst und verfolgte jede seiner Bewegungen durch die vorste henden Holunderzweige. Stumm betete sie, dass er sie nicht be merkt hatte.
Einige unendlich scheinende Augenblicke schaute Raoul herüber. Es war derselbe forschende Blick wie bei ihrer ersten Begegnung – derselbe Blick, der ihr das Gefühl gab, er wüsste alles über sie. Dann hielt er die Finger der einen Hand gegen die Nasenwur zel,als habe er Kopfschmerzen oder denke krampfhaft über etwas nach. Endlich hob er die Zügelhand und ritt zurück nach Eresing.
Als Anna zu den Gauklern zurückkam, erfuhr sie zu ihrem Er schrecken, dass Raoul sie dort bereits gesucht hatte. Beeindruckt erzählten die Kinder von dem feurigen Pferd, dem fremdartigen Schwert und der ungewöhnlichen schwarzen Kleidung. Aber of fenbar war man ihm mit dem üblichen Misstrauen des fahrenden Volkes gegenüber einem Ritter begegnet. Er hatte nichts in Erfah rung bringen können.
Erwartungsvoll fragte sie Falconet und dann die anderen Gauk ler nach dem Lied, das ihr die Anklage eingebracht hatte. Aber Falconet behauptete, er wüsste auch nicht mehr darüber als sie. Er hätte es von einem Chorherrn, aber der hätte es nicht gedichtet. Von den andern kannte es keiner, zumindest taten sie so. Wahr scheinlich logen sie und wollten nur Geld, dachte Anna wütend. Sie hätte ihrer Mutter glauben sollen: Gaukler waren schmutzig, liederlich und betrogen, wo sie nur konnten. Der bärtige Matthäus brummte, er könne weder lesen noch singen. Niemand wusste viel über ihn, offenbar war er nicht einmal mit seiner Geliebten lange bekannt. Der Vater ihrer Kinder war er jedenfalls nicht. Der große Blonde mit dem ungepflegten langen Haar gab sich geheimnisvoll, aber vermutlich tat er sich nur vor den andern Männern wichtig. Er hieß Steffen und war ein Goliarde, ein entlaufener Kleriker. Of fenbar hatte er sich gegen die Schweizer verdingt und war auch erst tags zuvor zu Falconet gestoßen. Und die Art, wie er Anna be gaffte, verriet überdeutlich, dass er eine Bettgenossin suchte.
»Heute kannst du noch einmal hier schlafen.« Eva, die blonde Frau mit den Kindern, wies auf das lose Heu in dem verlassenen Schafpferch. Die Bäume hatten Eicheln und kleine Zweige auf dem Dach abgeladen. Durch Löcher in den morschen Schindeln fielen sie herein und drückten beim Liegen unangenehm in den Rücken. »Aber morgen früh verschwindest du, oder du suchst dir Arbeit. Ich werde dich jedenfalls nicht durchfüttern.«
Amliebsten hätte Anna erwidert, dass sie keineswegs freiwil lig mit diesem verlausten, verlogenen Pack im Stall hauste. Aber besser, sie verscherzte sich ihre letzte Zuflucht nicht auch noch.
»Mal geht es gut im Leben, dann wieder bergab«, sagte Eva und wandte sich zur Tür. »Finde dich damit ab. Alle Pfaffen mit ihrem Latein können uns nicht erklären, warum.«
Anna starrte ihr nach. Alle Pfaffen mit ihrem Latein . Warum hatte sie nicht sofort daran gedacht? Das Lied, das ihr die Anklage ein gebracht hatte, war lateinisch. Und nur ein Kleriker konnte so gut Latein sprechen. In blendender Klarheit sah sie vor sich, was sie zu tun hatte:
Sie musste den Mann finden, der dieses Lied geschrieben hatte. Konnte sie beweisen, dass er kein Ketzer war, dann zerfiel auch die Anklage gegen sie zu Staub. Wenn er nur einen Funken Ehre besaß, würde er für sie bürgen. Und niemand würde es dann noch wagen, sie eine Hexe zu nennen. Nicht einmal Hermann von Rohrbach.
5
»Besser, wir gehen einzeln«, schlug Matthäus vor. »Wenn wir kniend hinüberrutschen, haben wir mehr Halt.«
Der Holzsteg, an dem die Gaukler standen, war fast überspült, und die fauligen Bohlen wirkten alles andere als vertrauenswür dig. Nach dem Regen der letzten Wochen war die Amper bei ih rem Austritt aus dem Ammersee stark angeschwollen. Tief stand das Uferschilf im schlammigen Wasser. Anna dachte daran, wie sie so auf den Lech gesehen hatte, kurz bevor sie im schäumenden Wasser um ihr Leben gekämpft hatte. Trotz der Kälte brach ihr der Schweiß aus. Zu gut wusste sie, wie gefährlich die Amper wegen ihrer heimtückischen Strudel war. Der bloße Anblick machte sie schwindlig. Aber die Gaukler wollten nach München, und Ulrich hatte
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