Die Gefährtin des Medicus
Erste, der sich wieder aufrappelte. »Geht es dir gut?«, fragte er.
Alaïs, die nicht wusste, ob sie gemeint war oder sein Bruder,nahm erleichtert wahr, wie sich ihre Augen langsam an das fahle Licht gewöhnten. Der Ort, an dem sie sich befanden, schien kein Zimmer zu sein, vielmehr eine Höhle im Inneren der Erde, nicht von Menschenhand, sondern einst von Wassermengen geformt. Von den Wänden tropfte es. Obwohl es faulig roch wie alles hier, stürzte sie an eines der Rinnsale, öffnete den Mund und versuchte, etwas von dem Nass zu erhaschen. Endlos lange schien es zu dauern, bis sie das Gefühl hatte, ein wenig die trockene Kehle befeuchten zu können. So gierig auf Wasser störte sie kaum, wie erdig und verdorben es schmeckte.
Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, dass Aurel sich – anders als Emy – nicht aufgerappelt hatte. Er war sitzen geblieben, hatte die Beine überkreuzt und scherte sich nicht um den klebrigen Untergrund. In dieser Lage begann er, erst seinen Leib abzutasten, dann sein Gesicht.
Er zuckte zusammen, als seine Finger die Wunde um sein Auge erspürten, doch er ließ sich von den sichtlichen Schmerzen nicht abhalten, so lange prüfend zuzudrücken, bis etwas Blut floss. Dieses betrachtete er eingehend und, wie Alaïs befand, nicht ohne Faszination. Ihr Grauen, in jenem schimmligen Loch festzustecken, wandelte sich zunächst in Befremden ob seines Verhaltens, dann in ärger.
War es möglich, dass er etwas Gutes aus seinen Verletzungen zog?
Gerade befühlte er den Magen, klopfte zunächst auf seine Bauchdecke und drückte dann tief, bis ihm ein Schmerzenslaut entfuhr.
»Hör auf damit!«, zischte sie jene Worte, die ihr manches Mal auf der Zunge gelegen hatten, wenn er in Leichen wühlte – und die sie sich doch immer verkniffen hatte. »Was du tust, ist widerwärtig!«
Wie so oft hörte er nicht auf das, was sie sagte. Doch diesmal nahm sie es nicht schweigend hin.
Sie stellte sich vor ihn, stampfte auf den Boden.
»Hör auf damit!«, rief sie wieder, und diesmal klang es kreisehend. »Es ist schon schlimm genug, was deinetwegen geschehen ist! Hättest du nur niemals die Leichen ausgegraben!«
Nun endlich hob Aurel den Blick, eher verblüfft als betroffen.
»Ich habe dich nicht gezwungen, mir zu helfen«, meinte er nüchtern, um sich alsbald wieder mit seinen Wunden zu beschäftigen.
»Natürlich hast du mich nicht gezwungen«, tobte Alaïs, und trotz allen ärgers empfand sie es als wohltuend, der unerträglichen Anspannung Luft zu machen. »Aber du hast mich niemals abgehalten! Keinen Gedanken hast du daran verschwendet, was passieren könnte … was
mir
passieren könnte, wenn alles auffliegt!«
Wieder traf sie sein verblüffter Blick. »Am besten fährt man im Leben, entscheidet jeder für sich selbst«, bemerkte er kühl.
Schlagen hätte sie ihn können, wenn er nicht schon geschlagen geworden wäre. Erneut stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden.
»Bitte«, murmelte Emy gequält. »Bitte … so streitet euch doch nicht. Es macht wirklich keinen Sinn. Besser wär’s, wir würden uns überlegen, was wir dem Comte zu unserer Verteidigung sagen.«
»Das ist doch ganz einfach!«, stieß Aurel leichtfertig aus, als wäre der Gedanke daran ebenso sinnlos wie die überlegung, wer an ihrer Lage Schuld trage. »Ich werde ihm sagen, dass man den Krankheiten nicht Herr werden kann, kennt man den Körper nicht. Und dass mein Tun keinen anderen Zweck hatte, als eben diesen Körper kennenzulernen.«
Alaïs schnaubte.
Emy hob beschwichtigend die Hand. »Das wird ihn herzlich wenig interessieren. Wir sollten uns genau zurechtlegen, was wir sagen und wie wir es tun. Alaïs, weißt du mehr über ihn? Wie mächtig ist der Comte? Kann er überhaupt ein Urteil über uns fällen?«
Sie zuckte die Schultern. Ihr ärger war heftig ausgefallen, hatte sich aber in den wenigen Vorwürfen erschöpft. Emys besorgteStimme machte sie müde – viel zu müde, um darüber nachzudenken, was ihre Eltern ihr alles über den Comte erzählt hatten.
»Ich … Ich glaube, sein Name ist Henric de Robessard. Aber viel mehr weiß ich nicht über ihn«, stammelte sie. »Ich denke, unter dem Comte steht der
Seigneur,
aber auch den hab ich noch nie in meinem Leben gesehen. Und zu dem Comte muss man
Seigneur Comte
sagen und ihm die Hand küssen … oder den Daumen.«
Emy nickte. »Dem Comte unserer Heimat unterstehen mehrere Dörfer. Er residiert in einer Burg mit einer mächtigen Mauer. Eine Mühle und eine
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