Die Gefährtin des Vaganten
Rattenfängerin. Piet ließ das Halfter des schweren Zugpferdes los und lief zu der Gestalt, die neben dem Wagenrad lag.
Laure ließ die aufgebrachte Frau stehen und ging ebenfalls zu der Unglückstelle. Hagan folgte ihr.
Es war ein Bild des Grauens – der Junge lag mit seltsam abgewinkeltem Hals auf dem Boden, Blut strömte aus Nase und Mund. Piet kniete neben ihm und fühlte nach seinem Herzschlag. Dann sah er auf.
»Holt eine Decke«, bat er mit versagender Stimme.
Die Vaganten bildeten einen fest geschlossenen Kreis um den Verunglückten, und Inocenta reichte Piet eine raue Pferdedecke. Sacht legte er sie über den Jungen.
»Was ist passiert?«, fragte Hagan erschüttert.
»Er wollte ein paar Schindeln auf dem Dach der Werkstatt befestigen. Er ist abgestürzt.« Inocentas Stimme war heiser vor Schmerz. »Oh, mein Gott, der arme Junge.«
Die beiden anderen Frauen begannen mit lautem Wehklagen, als Klingsohr den Toten aufhob. Dessen Glieder hingen schlaff nach unten, von seinem Kopf tropfte noch immer das Blut.
»Bringt ihn in meine Kammer«, sagte Laure erstickt.
Die kleine Prozession wandte sich dem Wohnhaus zu. Laure öffnete die Tür, und der Fiedler stöhnte, als er die steile Stiege sah.
»Äh!«, sagte der Tote und zappelte mit Armen und Beinen. »Lass mich runter.«
»Aber mit Vergnügen. Du bist schwer, Kerl. Frau Laure füttert dich zu gut.«
Als Jurg auf seinen eigenen Füßen stand, reichte Inocenta ihm ein nasses Tuch, und er wischte sich mit angeekelter Miene das Blut vom Gesicht.
Hagan lehnte von innen an der Tür und schüttelte den Kopf.
»Was bezweckt denn diese Vorführung?«
»Die Anwesenheit eines Toten zu erklären. Junge, raus aus dem Wams.«
»Aber nur zu gerne.«
Geschwind entledigte sich Jurg seines schwarzen Wamses und der hohen Schaftstiefel. Die Flickschneiderin schnappte sie sich und lief die Stiege hoch. Laure gab dem Jungen ein Bündel mit seinen Kleidern.
»Hier ist eine Salbe gegen die blauen Flecken, Jurg. Du musst dir wehgetan haben bei dem Sturz.«
»Ach, nicht sehr. Das viele Hühnerblut war das Ekeligste daran.«
»Deshalb hat Piet das Pferd gehalten«, schloss Hagan.
»Ja, der Wagen hat verdeckt, dass ich gesprungen bin. So, Frau Laure, wo soll ich mich verstecken?«
»In der Dachkammer. Tut mir leid, dass du deine Zeit mit dem Toten verbringen musst.«
»Der schwätzt wenigstens nicht mehr.«
»Dann rauf mit dir«, sagte Piet. »Und ihr werdet noch ein bisschen heulen und klagen, meine Damen.«
»Ich nicht, ich muss mich um die Gäste kümmern und ihnen das Unglück erklären.«
»Ihr tragt es mit Fassung, Frau Laure. Verliert sie ein wenig.«
Sie seufzte tief, und ihre Miene wurde wehmütig.
»Schon besser. Und schickt Jan nach dem Pfarrer.«
»Und mir wird jetzt hoffentlich jemand diese Scharade und möglicherweise meine Rolle darin erklären.«
»Komm mit. Hinten raus in die Gärten«, sagte Piet und ging den Flur entlang zur Hintertür.
Als sie zu den abgeernteten Obstbäumen wanderten, holte Hagan einmal tief Luft.
»Das war eine ziemlich überzeugende Vorstellung.«
»Ja, Jurg ist ein geschickter Schauspieler, und er beherrscht seinen Körper ungewöhnlich gut. Das tat der junge Ritter oder Knappe heute Nacht nicht. Darum haben ihn meine Messer getroffen.«
»Berichte.«
Die Geschichte von dem Einbruch in Laures Wohnung verursachte Hagan einen merklichen Schauder.
»Man ist also irgendeinem Geheimnis auf der Spur, das etwas mit Hemma zu tun hat.«
»Mit ihr und ihrer Schwester, der Mater Dolorosa.«
»Und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch mit Gunnar von Erpelenz, dem Berater des Erzbischofs.«
»Dann berichte du nun.«
»Der blinde Cantor, den ich gestern aufsuchte, hat mir gewissermaßen die Augen geöffnet. Engelbert von Soest war Scholaster an der Domschule, als Dietrich und ich sie besuchten. Er erinnerte sich gut daran, dass er und ich immer in Konkurrenz miteinander standen. Aber er glaubt nicht, dass Dietrich es auf mein Leben abgesehen hat. Er meinte, er sei zwar ein ungebärdiger Junge gewesen, abenteuerlustig und zu Mutproben neigend, aber er habe mich bewundert und seinen Onkel, den Erzbischof Friedrich von Saarwerden, geliebt.«
»Nette Einschätzung eines alten Mannes.«
»Eines Mannes, der unzählige Jungen zu jungen Männern hat heranwachsen sehen. Und der auch einer der Vertrauten mei … des alten Erzbischofs war. Und der noch immer ein gutes Verhältnis zu Dietrich hat. Ich glaube ihm, Piet.
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