Die Gegenpäpstin
fiel zur Seite, und Sarah stand unerwartet hinter ihm. Sie hatte dem Fremden offenbar einen Stoß versetzt, bevor
er auf Padrig schießen konnte. Padrig wartete auf einen Schmerz oder ein Brennen, das ihm verriet, ob der Angreifer ihn getroffen
hatte. Seiner Erfahrung nach spürte man eine Schußverletzung nicht sofort, erst recht, wenn der Körper mit Adrenalin vollgepumpt
war.
Sarah nahm blitzschnell die Taschenlampe an sich und entwaffnete den Fremden, der reglos am Boden lag. Dann kam sie auf Padrig
zugestürmt.
»Bist du verletzt?« Sie kniete neben Padrig nieder und riß an seiner hellen Daunenjacke, offenbar um sicherzugehen, daß ihm
nichts geschehen war.
Er stand taumelnd auf und nahm ihr wortlos die Lampe ab. Während er an sich herableuchtete, um sich seiner eigenen Unversehrtheit
zu versichern, nickte er zögernd. Danach begann er seinen Gefangenen zu untersuchen. Er war tot. Ohne etwas zu sagen, beugte
sich Padrig zu dem zweiten Mann hinab, der Sarah angegriffen hatte. Auch er war tot. Padrig hatte ihn mitten ins Herz getroffen.
Für einen Moment sank er auf die Knie und wischte sich voller Entsetzen über das Gesicht.
Sarah ging neben ihm in die Hocke und umarmte ihn.
»Ich habe ihn umgebracht«, flüsterte Padrig mit rauher, tonloser Stimme. »Gott verzeihe mir, ich habe ihn umgebracht.«
|260| 30.
62 n. Chr. – Die Söhne der Finsternis
Jaakov ließ sich ohne Gegenwehr abführen. Er wollte nicht auch noch die Frauen und Kinder gefährden, indem er sich gegen seine
Widersacher erhob.
Draußen war es längst dunkel geworden. Dutzende von Fackeln beleuchteten den Weg zur römischen Kommandantur, die Hannas’ ben
Hannas Leute jedoch links liegen ließen. Sie brachten Jaakov zu einem geheimen Eingang unterhalb des Tempels, der zu einem
unterirdischen Gang führte. Einer der Wächter ging voran. Kein Wort der Erklärung fiel, und Jaakov beschlich für einen Moment
die Angst, daß man ihn ohne Urteil und direkt vor Ort zur Strecke bringen würde.
Daß es noch weitaus schlimmer kommen sollte, begann er zu ahnen, als man ihn nach schier endloser Zeit in eine große unterirdische
Halle führte, von deren Existenz er bisher nichts gewußt hatte. Merkwürdige Zeichen verunzierten die glatt behauenen Wände,
und grausige, in Stein gehauene Fratzen verstießen in unerhörter Weise gegen das zweite Gebot Mose, das besagte:
Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf
Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.
Jaakov fröstelte. Wo war er hier nur hingeraten, und was hatten die Wächter des Tempels mit einer solchen Hölle zu tun? Seine
Blicke streiften unzüchtige Wandmalereien, Gestalten, die sich nackt und ohne jegliche Scham der Paarung hingaben. Die Männer
gehörnt und mit gewaltigem Phallus, die Frauen rehäugig, mit den aufgerichteten Ohren einer Füchsin und mit gewaltigen Brüsten,
aus denen etwas hervorquoll, das man im Zwielicht des Feuers durchaus als Blut hätte bezeichnen können.
In einer hohen achteckigen Halle ohne Fenster kettete man ihn |261| an wie ein Opfertier und überließ ihn eine Weile sich selbst. Inmitten des Raumes stand ein breiter Altar aus einem glänzenden,
schwarzen Stein gehauen, der das Feuer der Fackeln widerspiegelte. Unvermittelt setzte ein Trommelwirbel ein, und weißgekleidete
Männer, die Köpfe mit Kapuzen verhüllt, traten in einer langen Reihe aus einem der finsteren Gänge. In sonorer Stimmlage sangen
sie vor sich hin, während ein jeder von ihnen eine flache Trommel in Händen hielt, die er mit einem gekrümmten Stock im Rhythmus
des menschlichen Herzschlags schlug.
Einer von ihnen trat hervor und warf ein helles Pulver in die auflodernden Flammen eines der in Reih und Glied aufgestellten
Feuerkörbe. Es sprühte und funkelte, so hell, daß Jaakov für einen Moment die Lider schließen mußte.
Die Kapuzenträger stellten sich im Halbkreis um den Altar auf. Dann kündigte ein weiterer Trommelwirbel ein neues Ereignis
an. Jaakov konnte zwölf Gestalten zählen – die Zahl, welche die Einheit des Alls symbolisierte.
Ein rabenschwarzer, schnaubender Stier wurde von zwei hünenhaften Wachen hereingeführt. Auf dem Rücken des gewaltigen Tieres
saß eine völlig verängstigte junge Frau.
In wilder Panik klammerte sie sich an den pelzigen Widerrist des Tieres. Sie war beinahe nackt, denn außer ihrem langen braunen
Haar
Weitere Kostenlose Bücher