Die Gegenpäpstin
Aufmerksamkeit, weil er sich unauffällig an der Schlange vorbeidrängte.
»Siehst du den Typen da?« flüsterte sie Rolf zu, der damit beschäftigt war, in seinem Rucksack den Paß zu suchen.
Der Deutsche schaute kurz auf und nickte.
|134| »Er hat mich die ganze Zeit beobachtet, während du geschlafen hast.«
»Ist mir nicht aufgefallen«, antwortete Rolf wenig interessiert. »Wahrscheinlich fand er dich attraktiv. Es gibt eine Menge
Männer, die dir Blicke nachwerfen.«
Während sie die riesige Ankunftshalle durchquerten, blieb Sarah wachsam, aber der mysteriöse Mann tauchte nicht mehr auf.
Ein Mann mit Vollbart und blondem Pferdeschwanz lief allerdings freudestrahlend auf sie zu.
»Volker!« rief Rolf voller Wiedersehensfreude und warf sich dem kräftigen, wenn auch nicht besonders großen Mann in die Arme.
In Jeans, Karohemd und Bikerstiefeln entsprach sein Partner so gar nicht dem Bild, das man sich für gewöhnlich von einem Homosexuellen
machte.
Einen Moment lang spürte Sarah einen Stich in der Brust, ein plötzliches Gefühl von Einsamkeit, als sie sah, wie sehr sich
die beiden Männer herzten, wobei sie jedoch darauf verzichteten, sich in aller Öffentlichkeit auf den Mund zu küssen.
Wenig später zog Rolf seinen Partner zu ihr hin und stellte sie überschwenglich als seine Freundin vor. »Das ist Volker Bachmann,
seines Zeichens Reiki-Therapeut und ehemals angehender Pfarrer, und das hier«, fuhr er feierlich fort, »ist Doktor Sarah Rosenthal,
leibhaftige Nachfahrin der Mirjam von Taricheae.«
Das Haus der beiden lag recht einsam und romantisch im Bergischen Land, etwa zweihundert Kilometer von Frankfurt entfernt.
Im Lichtkegel der Scheinwerfer sah Sarah riesige Tannen, die die schmale Zufahrt zu dem Fachwerkhäuschen säumten.
Über dem Eingang zur Küche hing eine Kuckucksuhr, und auf dem Weg in den ersten Stock defilierte man an einer überdimensionalen
Ahnengalerie vorbei. In aufwendig gerahmten Porträtfotos gaben sich unterschiedliche Generationen der beiden Hausbesitzer
die Ehre.
|135| Volker trug Sarahs Armeerucksack in ihr Gästezimmer, das mit Blümchengardinen und bunter Bettwäsche einen überaus heiteren
Eindruck vermittelte. Nur ein geschnitzter Jesus Christus am barocken Kreuz, das über der Tür angebracht war, widersprach
dieser Atmosphäre.
Rolf versorgte sie wenig später mit einer Tasse Tee. »Wenn du etwas trinken oder essen möchtest, melde dich ruhig, oder noch
besser, du gehst in die Küche und bedienst dich selbst.« Er stutzte einen Moment, bevor er fortfuhr: »Ich hoffe, es ist kein
Problem. Volker hatte bisher nicht die Zeit, koscher einzukaufen.«
»Danke«, erwiderte Sarah. »Aber das ist auch nicht nötig. Du weißt doch, daß ich mich nur bedingt an jüdische Speiseregeln
halte.«
Sein Blick fiel auf ihren Laptop, den sie auf dem Nachttischschränkchen abgestellt hatte.
»Kann ich sie noch mal sehen?« fragte er zögernd. »Die Pergamentkopien und deine bisherigen Übersetzungen.«
»Natürlich«, sagte Sarah und schaltete das Gerät ein. »Sie hatte eine Tochter«, sagte sie leise, während sie den altgriechischen
Text herunterscrollte. »Sie mußte sie zur Sicherheit bei einer jüdischen Familie in Ägypten zurücklassen, als sie nach der
Kreuzigung Jesu geflohen ist.«
Rolf schaute wie gebannt auf den Bildschirm, während er die englische Übersetzung verfolgte.
»Es ist unglaublich«, flüsterte er. »Außer uns hat das noch niemand gelesen.«
»Weißt du, Rolf, seitdem ich diese Texte übersetze, frage ich mich zum ersten Mal, ob es sie wirklich gibt, diese andere Welt,
das, was man landläufig Jenseits oder Paradies nennt. Eine Vorstellung, die in vielen Religionen eine Rolle spielt, aber an
die ich selbst bisher nie geglaubt habe.«
»Denkst du an Aaron?«
»Ja«, flüsterte sie. »Es wäre doch schön, wenn er uns jetzt sehen könnte, nicht wahr?«
|136| Rolf nickte, während sie weiter die einzelnen Textpassagen herunterscrollte.
»Ich habe da etwas gefunden«, durchbrach sie dann das Schweigen und rief ein weiteres Dokument auf. »Ich habe es noch vor
Aarons Tod übersetzt, am zweiten Abend, gleich nachdem wir die Schriften kopiert hatten. Es scheint mir wie eine Antwort auf
meine Fragen zu sein.«
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