Die Gegenpäpstin
einjagen, Kind«, bemerkte Sarahs Vater mit seiner sonoren Stimme, mit der er für gewöhnlich den
Texten des heiligen Talmuds Würde und Tiefe verlieh. »Aber das sollte dir eine Warnung sein. Deine Arbeit birgt einen immerwährenden
Frevel in sich. Auch Doktor Messkin hätte sich dessen bewußt sein müssen, und deshalb kann ich seinen Tod zwar bedauern, aber
solch ein Ende war beinahe vorherzusehen.«
»Er war auch kein richtiger Jude«, mischte sich Leah ungefragt ein. »Soweit ich weiß, hat er selten eine Synagoge von innen
gesehen. Der Vater war sephardischen Glaubens und seine Mutter eine Syrerin. Kein Wunder, wenn er sich zur Gegenseite hingezogen
fühlte.«
|127| Sarahs Blick versprühte unübersehbar Gift. »Weißt du, Leah, ich finde dich und Vater einfach unmöglich. Das hört sich ja geradezu
so an, als ob ihr Aaron den Tod gewünscht hättet. Was kann denn er dafür, wenn seine Eltern keine aschkenasischen Juden sind?
Und was soll dieses abergläubische Geschwafel, sein Tod wäre vorauszusehen gewesen? Daß hier etwas nicht mit rechten Dingen
zugeht, kann selbst ein Blinder sehen. Aber wer auch immer die Verantwortung für all das trägt, sollte sich hüten, sich in
irgendeiner Form auf die Religion zu berufen. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, wegen irgendwelcher Glaubensfragen
den Tod eines Menschen in Kauf zu nehmen, es sei denn, er wäre ein Fall für die Klapsmühle!« Ohne ein weiteres Wort wandte
sie sich ab und verließ das Eßzimmer.
Rolf hatte sich inzwischen mit der frohen Kunde gemeldet, daß er für den nächsten Tag bei El Al zwei Tickets für den Rückflug
nach Frankfurt ergattert hatte. Die Nacht wollte Sarah mit ihm zusammen im Wohnheim der Universität verbringen, wo ihr für
Notfälle ein Zimmer zur Verfügung stand.
Während Sarah die Taschen in ihrem Wagen verstaute, erschien ihr Vater unvermittelt an der Tür. »Willst du es dir nicht doch
noch einmal überlegen?« fragte er mit der für ihn typischen Selbstgefälligkeit. »Es wäre so einfach, dein Leben zu ändern.
Gib deinen Beruf auf! Heirate einen anständigen Mann! In meiner Gemeinde gibt es so viele gutsituierte Junggesellen, die nur
darauf warten, eine Frau wie dich zu finden.«
Sarah schulterte ihren Rucksack. »So einfach ist es nicht«, entgegnete sie leise. »Die Universität hat mich bis auf weiteres
suspendiert. Die Polizei glaubt allem Anschein nach, ich hätte wegen meiner Freundschaft zu Aaron etwas mit der Sache zu tun.
Unter diesen Umständen weiß ich nicht, ob ich je nach Israel zurückkehren kann.«
Sarah umarmte ihn wortlos und drückte ihm zum Abschied einen Kuß auf die Wange. Moshe Rosenthal erwiderte die Umarmung |128| seiner Tochter nicht, sondern sah sie nur mit versteinerter Miene an. Enttäuscht von der Reaktion ihres Vaters, ging sie zum
Wagen. Ohne sich noch einmal umzuschauen, stieg sie ein und fuhr davon.
Am späten Nachmittag lenkte sie ihren Mini die schmale Straße nach Korazim hinunter, einem bekannten Wallfahrtsort nördlich
des Sees Genezareth, nicht weit entfernt davon lag das Örtchen Almagor, wo Aaron zu Hause gewesen war.
Rolf saß neben ihr und ließ seinen Blick über die hügelige Landschaft streifen, nachdem Sarah ihren Mini auf einem steinigen
Parkplatz abgestellt hatte. Der Friedhof war menschenleer, und die exakt aneinandergereihten Grabsteine warfen in der untergehenden
Abendsonne lange Schatten. Es dauerte einen Moment, bis Sarah das frisch ausgehobene Grab entdeckte.
Es mußte Aarons Vater einiges an Überzeugungsarbeit gekostet haben, daß er seinen Sohn in der Obhut einer Synagoge beerdigen
durfte. Denn obwohl Aarons Mutter zum jüdischen Glauben konvertiert war, galt ihr Sohn nicht automatisch als Jude, da sie
bei seiner Geburt noch eine Muslima gewesen war.
An Aarons Grab begann Sarah laut das aramäische Kaddisch D’Etchadita zu beten, obwohl die eigentliche Beerdigung längst vorbei
war.
Rolf war zum Wagen zurückgegangen, wo er geduldig auf sie wartete.
Der Abendwind blies ihr das Haar ins Gesicht, und für einen Moment dachte sie an die beiden Toten vom Jebel Tur’an. Der Mann
war etwa zur selben Zeit gestorben wie die Frau. Ob er sie geliebt hatte? Oder war er nur ein stummer Verehrer gewesen, so
wie sie noch lange Zeit nach dem Ende ihrer Beziehung von Aaron verehrt worden war, ohne es wirklich zu bemerken. Und wenn
der Tote tatsächlich gesteinigt worden war, wie Aaron herausgefunden
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