Die geheime Braut
einen rostigen Nagel eingetreten und war in einer schäbigen Scheune wie ein tollwütiger Hund verreckt.
Vieles von dem, was er vor ihr mit einem Stock in den Sand gekratzt hatte, hatte sie inzwischen wieder vergessen, aber es war doch genügend in ihrem Hirn zurückgeblieben, um die einzelnen Buchstaben dort zu erkennen.
M – las sie, bräunlich und riesengroß.
Aber warum war es mit einer dicken Linie durchgestrichen?
Ihr Blick flog zur nächsten Wand.
D – stand da, ebenfalls bräunlich geschrieben. Doch der Strich, der mittendurch ging, hatte eine andere Farbe: rot wie Blut.
Marleins Herz schlug hart gegen die Rippen. Sie spannte die Halsmuskeln an, so stark sie nur konnte, denn auf jeder der beiden Wände neben dem schmalen Fenster entdeckte sie einen weiteren Buchstaben.
Ihre Zunge drückte gegen den Knebel – und plötzlich ließ er sich aus dem Mund schieben. Marlein röchelte, sie hustete und brach vor Erschöpfung zusammen. Schließlich jedoch rappelte sie sich mühsam wieder auf und starrte zum Fenster.
»K«, flüsterte sie, als sie das Zeichen entziffert hatte. »K. K.«
Dann riss sie den Mund auf und schrie um ihr Leben.
*
Griet fuhr aus fiebrigem Schlaf hoch.
Im Haus war alles ruhig. Sie hatte den Hübschlerinnen, die vorhin noch einmal nach ihr geschaut hatten, erlaubt, auf den Markt zu gehen, um Bänder, Honig und Kräuter zu kaufen. Sie wusste, was sie damit riskierte, denn niemand in der Stadt wollte die Bewohnerinnen des Frauenhauses, die den Männern für unkeusche Dienste das Geld aus der Tasche zogen, in der Öffentlichkeit sehen. Doch heute war sie zu schwach gewesen, um ihnen den Wunsch abzuschlagen.
Einzig Isolde war zurückgeblieben, die heimlich an die Branntweinvorräte gegangen war und nun in ihrer Kammer einen gewaltigen Rausch ausschlief.
Ob sie lediglich geträumt hatte? Griet lauschte in die Stille.
Da! Wieder hörte sie es. Ein Laut, schwach und gebrochen – und er kam eindeutig von oben.
Schweiß sammelte sich in ihren Achselhöhlen.
War der Patron unbemerkt zurückgekommen und stellte sie nun auf die Probe, um herauszubekommen, ob sie ihn hintergehen würde?
Griet spitzte die Ohren.
Nein, das klang nicht nach dem Patron.
So schrie ein Tier in höchster Not, ein Kind oder …
»Marlein!«, flüsterte sie, während sie ihre Beine vorsichtig auf den Boden stellte, der sie zu ihrer Überraschung trug.
Wie aber sollte sie an die Kiste unter ihrem Bett gelangen?
Schwerfällig ließ Griet sich auf die Knie sinken und kroch halb unter das Bett, bis ihre Fingerspitzen endlich an die Kiste stießen.
Sie zog sie hervor, rappelte sich schwitzend wieder hoch und öffnete den Deckel.
Zwischen Tand, Stoffresten und halb zerschlissenen Borten ertastete sie schließlich den Schlüssel und schob ihn unter das Hemd. Aber noch etwas nahm sie mit: ein scharfes kleines Messer, das Rup ihr zum Andenken hinterlassen hatte.
Dann warf sie sich ein Tuch um und verließ ihre Kammer.
Die Stufen nach oben nahm sie wie im Traum. Und je höher sie kam, desto deutlicher wurde das Rufen.
»Hilfe! So helft mir doch – Hilfe!«
Kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten, zog Griet den Schlüssel heraus. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie ihn erst nach mehreren Anläufen ins Schloss bekam.
Sie sperrte auf. Die Tür öffnete sich.
»Griet!«, schluchzte Marlein auf. »Warum kommst du erst so spät?«
Griet sah die Fesseln, das besudelte weiße Kleid und die Angst in Marleins Augen. Sie wollte sich schon bücken, um das Mädchen zu befreien, als sie plötzlich innehielt.
»Was ist das?« Griet deutete auf die Kästchen.
»Weiß ich nicht«, sagte Marlein. »Mach mich endlich los! Ich will weg!«
Mit dem Messer durchtrennte Griet die Fesseln. Marlein rieb sich die Arme, versuchte, ihre Beine zu bewegen.
»Ich bin gelähmt«, rief sie weinend, als das Aufstehen misslang. »Er hat mich lahm gemacht. Nie wieder werde ich aus eigenen Stücken gehen können.«
»Doch, das wirst du. Du brauchst nur ein wenig Geduld.«
Griet bückte sich nach dem Kästchen und öffnete es. Zwei abgeschnittene Haarlocken lagen darin, die eine rötlich blond, die zweite dunkler, aschfarben.
Wie tot sahen sie aus.
Sie schlug den Deckel wieder zu. Dann erst wagte sie, den Blick auf die Wände zu richten.
Sie sah das M, das durchkreuzt war, ebenso das durchgestrichene D. Dann auf jeder Seite des Fensters das K, unberührt – noch.
Etwas eisig Kaltes flog Griet an, das sie Fieber und
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