Die geheime Braut
Töchter des Zeus«, sagte Jan, um die Stimmung aufzulockern. »Nur wer ihre Mutter war, darüber streiten sich bis heute die Gelehrten.«
Margaretha begann zu kichern.
Sie hatte bereits zwei Becher Wein getrunken und war gerade dabei, sich den dritten einzuschenken.
»Was für ein Unsinn!«, widersprach sie. »Wer die Frau ist, die ein Kind zur Welt bringt, weiß man doch immer ganz genau. Nur beim Vater können hie und da Zweifel aufkommen.«
»Vielleicht ist das bei Halbgöttinnen anders?«, erwiderte Jan.
Seinen eigenen Vater hatte er niemals erlebt, weil diesem ein herabstürzender Balken das Leben geraubt hatte, bevor der Sohn zur Welt kam. Jan hatte lernen müssen, sich von klein auf ohne väterliche Hilfe durchzuschlagen, und war schon früh zum Beschützer von Großmutter und Mutter geworden. Vielleicht war ihm deshalb seine Unabhängigkeit so wichtig – und die erschien ihm jetzt zum Greifen nah. Er spürte, wie seine Anspannung stieg.
»Von einem Gott abzustammen ist doch eigentlich keine so üble Vorstellung«, fügte er hinzu. »Oder was meinst du?«
Irgendwann im Lauf der gestrigen Sitzung war das steife »Ihr« zwischen ihnen gefallen, und das vertraulichere »Du« kam beiden inzwischen leicht über die Lippen.
»Darf man denn so etwas überhaupt denken?«, fragte sie. »Ohne Gott zu freveln und damit eine schwere Sünde zu begehen? Es gibt doch nur den einen dreifaltigen Gott, das lehrt uns die Bibel. Und Luther hat jetzt sogar alle Heiligen abgeschafft.«
»In der Antike haben die Menschen offensichtlich so gedacht. Für sie war der Olymp ein hoher Berg voller Götter. Von Heiligen wussten sie nichts – glaube ich wenigstens.«
»Bei unserem Gottvater, Jesus Christus und dem Heiligen Geist ist kein Platz für Frauen«, erwiderte Margaretha. »Die Menschen müssen damals ganz anders empfunden haben.«
»Haben sie wohl«, bekräftigte Jan. »Sonst hätten sie niemals ihre wunderbaren Kunstwerke erschaffen können.«
»Du warst schon einmal dort, in jenem fernen Land?« Auf einmal klang sie fast andächtig.
»Leider nicht. Alles, was ich darüber weiß, kenne ich lediglich von Zeichnungen oder Stichen. Aber ich habe vor, dorthin zu reisen. Es gibt so vieles, das ich noch sehen und erfahren möchte – bevor sich eines Tages der Sargdeckel über mir schließt.«
Sie begann sich mit dem Handrücken Luft zuzufächeln.
»Erzähl mir mehr von diesen Grazien«, bat sie. »Ich möchte erfahren, wer sie waren.«
»Bleib so!«, rief Jan. »Ja, ganz genau so. Kannst du das ein paar Augenblicke lang aushalten?«
Er zeichnete, so schnell er konnte. Inzwischen arbeitete er wie im Fieber, ein gutes Omen, wie er wusste. Alles, was er hier zu Papier brachte, würde später in die Studie und den Bildaufbau mit einfließen.
»Die Grazien waren drei Schwestern, eine schöner und an mutiger als die andere«, fuhr er fort, ohne den Stift abzusetzen. »Ihre Namen lauteten Thalia, was Blüte bedeutet, Euphrosyne, das sich in etwa mit Frohsinn übersetzen lässt, und Aglaia, der Glanz.«
»Und welche von den dreien soll ich darstellen?« Jetzt klang sie aufgeregt wie ein junges Mädchen vor dem ersten Kuss.
»Aglaia, die jüngste und anziehendste der Schwestern.«
Margaretha gab ein Glucksen von sich, das von ganz unten zu kommen schien, dann wurde sie plötzlich ernst.
»Du musst bald gehen«, sagte sie. »Es ist schon sehr spät. Und gib acht, wenn du das Haus verlässt. Niemand darf dich sehen!«
Er wusste, welches Risiko sie eingingen. Aber wo sonst hätte er ihr Bild in Ruhe zu Papier bringen können?
In die Werkstatt konnte er sie nicht schleusen, ohne dass jemand es bemerkt hätte, und seine enge Kammer im oberen Stockwerk des Cranach-Hauses hätte die scheue Margaretha niemals freiwillig betreten. Es war ohnehin ein Wunder, dass sie ihn nach langem Zögern in ihre Räume über der Apotheke eingelassen hatte – und das zu nachtschlafender Zeit.
»Darf ich mal sehen?« Auf einmal stand sie neben ihm, rosig, erhitzt, duftend wie ein Stoß sonnenfrischer Wäsche.
»Kein Maler zeigt gerne seine Vorarbeiten.« Er drehte die Blätter schnell um. »Erst wenn das ganze Bild fertig ist …«
»Aber du hast gesagt, ich soll mich von dir malen lassen, damit ich lerne, mich mehr zu lieben.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Und wie soll das gehen, wenn ich nicht einmal die Zeichnungen ansehen darf?« Ihre Stimme kletterte immer höher. »Wo sind überhaupt deine Malsachen, Farben, Pinsel, Staffelei?
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