Die geheime Braut
war … äußerst bemerkenswert.«
»Moira würde jederzeit wieder gerne für Euch aufkochen«, sagte Pistor mit ernster Miene. »Und was Euch sonst noch bei mir erwartet, habt Ihr ja gesehen.«
»Wie haltet Ihr es mit der Religion, werter Pistor?«, fragte Melanchthon unverblümt. »Ganz frank und frei heraus damit! Eure Antwort wird uns die Entscheidung leichter machen.«
»Und ich dachte, ich stünde als Kandidat bereits fest …« Pistors Gesichtszüge wirkten plötzlich wie erloschen.
»Noch nicht ganz«, sagte Luther. »Ihr wollt die Wahrheit? Ihr sollt sie haben. Ja, wir haben einige Zweifel, das ist richtig. Und nach dem Besuch neulich sind diese nicht gerade weniger geworden. Aber es ist an Euch, uns vom Gegenteil zu überzeugen.«
Pistor schob einen Stuhl zurück und setzte sich an den langen Tisch.
»Ich nehme an, Euch ist der Ausdruck acedia bekannt«, sagte er. »Nach theologischer Lehre beschreibt man damit den ungesunden Zustand der Unentschlossenheit.« Schöneberg nickte, während die anderen Männer keine Reaktion zeigten. » Acedia ist eines der sieben Hauptlaster. Wie ließe es sich wohl am besten übersetzen?«
Mit aufreizender Langsamkeit schaute er von einem zum anderen.
»Nun, vielleicht am besten mit ›Trägheit des Herzens‹? Was meint Ihr? Nach meiner Ansicht ist das viel präziser als der häufig herangezogene Begriff der ›Faulheit‹, der vieles bloß verwässert.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«, rief Melanchthon.
»Gemach, gemach!« Pistor schien die Situation mehr und mehr zu genießen. » Acedia hat sechs boshafte Töchter, wie Thomas von Aquin schrieb: Bosheit, Groll, Kleinmütigkeit, Ver zweiflung, stumpfe Gleichgültigkeit und lasterhafte Abschwei fung – sie alle gehen mit der Mutter einher.«
Seine Stimme wurde beißend.
»Will sich jemand aus dieser erlauchten Runde freiwillig unter die Knute dieser unheilvollen Töchter begeben?«
Es wurde so still im Saal, dass das Scharren der Stühle auf dem harten Boden plötzlich überlaut wirkte.
Pistor lehnte sich sichtlich befriedigt zurück.
»Dann würde ich doch vorschlagen, dass die Herren Collega …« Er verstummte, weil plötzlich Cranach auf der Schwelle stand.
»Professor Winsheim?«, sagte er. »Wir haben Euch schon überall gesucht.«
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Winsheim.
Cranach schien ihn gar nicht zu hören. Sein Gesicht war nass von Schweiß. Auch seine braune Schaube zeigte große dunkle Flecken.
»Wir haben Relin gefunden«, sagte er. »Erhängt. Im Nebenraum der Offizin. Ich möchte, dass Ihr ihn Euch anseht.«
»Er hat sich selbst gerichtet?« Melanchthon war aufgesprungen. »So hat unser Verdacht sich doch bestätigt.« Er zwinkerte Pistor zu, der allerdings keine Miene verzog.
»Die Büttel haben ihn in den Vorlesungssaal gebracht«, sagte Cranach. »Dort befindet sich auch mein Geselle Jan Seman. Er hat bereits damit begonnen, die Leiche zu zeichnen – auf meine Anweisung hin.«
»Er zeichnet den Toten?«, rief Hunzinger. »Weshalb?«
»Um nichts Wichtiges zu übersehen«, sagte Cranach. »Kommt! Und überzeugt Euch mit eigenen Augen!«
Er lief voran, und sie folgten ihm heftig diskutierend.
Der Tote lag auf der gleichen Bahre, auf der auch seine Frau gebettet gewesen war. Ein ungleich schaurigerer Anblick, der den empfindsamen Melanchthon nach Luft ringen ließ.
»Ja, er ist definitiv durch Erhängen gestorben«, sagte Winsheim, nachdem er ihn eingehend von allen Seiten inspiziert hatte. »Trotz seines bekleideten Zustands vermag ich das zu konstatieren. Die dunkle Zunge, die hervorquellenden Augen, der Genickbruch, die Verschmutzung durch Einkoten und Urinabgang – alles spricht dafür. Außerdem ist er bereits steif, was darauf hinweist, dass der Tod schon vor einigen Stunden eingetreten sein muss.«
»Wir haben einen Abschiedsbrief gefunden.« Cranach hielt das Schreiben hoch. »Darin gesteht er seine Schuld. Ich habe die Schrift erkannt. Relin selbst hat ihn geschrieben.«
»Und weshalb stehlt Ihr mir dann die Zeit?«, fragte Winsheim ungehalten. »Wenn ich jeden Selbstmörder untersuchen wollte, hätte ich viel zu tun. Zumal, wenn es sich um einen geständigen Mörder wie Relin handelt!«
»Und was ist das hier?« Jan hatte seine Arbeit abgeschlossen und deutete auf die Hände des Toten. »Dunkle Flecken. Kratzer. Abgebrochene Nägel, vier an der Zahl, wenn ich richtig gezählt habe. Er hat sich offenbar gewehrt. Gegen sich selbst?«
Er ging zum Kopfende der Bahre.
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