Die geheime Braut
geschieht dir ganz recht. Stets hast du alles versucht, um uns gegeneinander auszuspielen. Meinst du, ich hätte das nicht gemerkt? Den Kleinen immer fleißig loben und gleichzeitig meine Sachen madig machen. Aber damit ist jetzt Schluss. Mein Bruder und ich, wir sind nämlich Cranachs. In uns fließt das Blut eines Vaters, dem ganz Europa huldigt. Sogar der Kaiser hat sich von ihm porträtieren lassen. Und irgendwann werden wir seine Stelle einnehmen. Du aber bist und bleibst ein Niemand. Von nirgendwoher.«
Jan drehte Hans den Rücken zu und kehrte schweigend zurück zur Staffelei, um seine Arbeit fortzusetzen.
Doch nach ein paar Strichen glitt ihm der Pinsel unvermutet ab.
Das elfenbeinfarbene Antlitz der Judith, vor der der abgeschlagene Kopf des Holofernes lag, verunzierte auf einmal ein hässlicher karminroter Strich.
*
Die Dunkelheit verlor an Schrecken, als immer mehr Zeit verstrich. Dafür gab es andere Dinge, die Marlein bis ins Mark erschreckten.
Der rostige Schrei eines Nachtvogels.
Der Druck auf ihrer Blase, dem sie schließlich nachgeben musste, weil sie sich nicht von den Stricken befreien konnte. Das widerliche Gefühl des nassen Stoffs, der schon bald unangenehm zu riechen begann.
Vor allem aber das Klackern von Krallenpfoten ganz in ihrer Nähe.
Ihre tief sitzende Furcht vor Ratten rührte von einem grausigen Fund her, den die Mutter und sie eines frühen Morgens in Flussnähe gemacht hatten: eine Kinderleiche, halb zerfressen von den scharfen Zähnen der grauen Nager, die sie seitdem inbrünstig hasste.
Ob sie sich auch an eine lebende Beute herantrauen würden?
Die Vorstellung trieb Marlein den Schlaf aus den Augen und ließ sie wieder hellwach werden. Zumindest war es ihr gelungen, sich aufzurichten und eine sitzende Position einzunehmen. Doch die Stricke schnitten unbarmherzig ins Fleisch und drückten das Blut ab. Arme und Beine fühlten sich taub an wie Fremdkörper, die nicht mehr zu ihr gehörten.
Am schlimmsten jedoch war der Knebel. Ständig hatte sie gegen Würgereiz anzukämpfen, und lediglich die düstere Aussicht, am eigenen Erbrochenen zu ersticken, brachte sie schließlich dazu, einen gleichmäßigeren Atemrhythmus zu finden und auch beizubehalten.
Wo war sie hier gelandet?
Eine Art Dachkammer, von dicken Balken gestützt, leer bis auf einen Hocker, den sie schließlich ausmachen konnte, als sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. An den grob verputzten Wänden waren offenbar seltsame Striche und Linien, die sie aufgrund mangelnden Lichts jedoch nicht näher erkennen konnte.
Irgendetwas trieb Marlein in die Nähe dieses Hockers. Auf ihrem Hinterteil rutschend, bewegte sie sich vorwärts, was sich als äußerst schweißtreibend herausstellte und sie immer wieder zum Innehalten zwang.
Sie begann vor Erleichterung zu weinen, als sie den Hocker endlich erreichte, obwohl sich dadurch nichts an ihrer verzweifelten Situation änderte. Und dennoch war es plötzlich, als leuchtete ein winziger Hoffnungsstrahl in ihr Elend.
Als sie sich nämlich an den Hocker lehnen wollte, schrie sie unwillkürlich auf, weil sie an etwas Spitzes geraten war, das ihre Haut aufriss.
Den kurzen brennenden Schmerz begrüßte Marlein innerlich fast jubelnd, denn er war mit gleich dreifacher Erkenntnis verbunden: Sie war durchaus in der Lage, Laute von sich zu geben. Der Knebel schien zu schrumpfen, je feuchter er wurde. Und was am besten war, sie hatte einen herausstehenden Na gel entdeckt, an dem sie das Seil wetzen konnte, das ihre Hände aneinanderfesselte.
*
»Findet sie, Meister Cranach!« Das liebliche Gesicht der Kurprinzessin wirkte müde und war vom vielen Weinen verquollen. »Und bringt sie mir zurück! Dilgin ist so viel mehr als meine Hofdame. Sie ist eine Vertraute und Freundin, der ich mich inniglich verbunden fühle.«
Hätte er doch nur rechtzeitig auf Barbara gehört, als sie ihn beschworen hatte, die Nachforschungen über den Tod Margaretha Relins anderen im Rat zu überlassen!
Dann wäre er jetzt gewiss nicht ins Schloss zitiert wor den, in diesen lang gestreckten Trophäensaal, wo überall an den Wänden knöcherne Schädel mit stolzen Geweihen hingen, mit denen das kurfürstliche Jagdglück demonstriert wurde.
Ab und an hatte auch die Cranach-Werkstatt Wildliefe rungen erhalten, eine generöse Geste von Friedrich dem Wei sen, der die Vorliebe seines Hofmalers für Wildbret kannte. Der Kurfürst hatte Cranach sogar häufiger zur Jagd eingeladen, was dieser freilich
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