Die geheime Mission des Nostradamus
so seicht.«
»Da meine Künste bei Hofe so beliebt sind, warum also nicht weiterhin seicht bleiben?«
»Weil du jetzt den Unterschied kennst. Und du kannst weitaus mehr. Es ist zu leicht, den Höflingen mit seichten Dingen zu gefallen – die machen ihnen keine Angst.«
»Ich… ich kann nie wieder sein, was ich einmal war.«
»Warum solltest du auch? Ich für mein Teil mag deine Dialoge. Dein letzter war hervorragend.«
»Aber ich kann nicht… das war nur… Ach, mir kommt gerade ein Gedanke.« Eine Idee grünte in meinem Inneren wie frisches Leben. »Was hältst du von einem Dialog, der im Fegefeuer zwischen niederen Dämonen und den großen Sündern und Kurtisanen der Geschichte stattfindet? Ich würde mir Base Mathelines Abendgesellschaften zum Vorbild nehmen, die sind das reinste Fegefeuer.«
»Oh, das gefällt mir!« sagte der Engel der Geschichte. »Falls du irgendwelche kleinen, historischen Einzelheiten benötigst, ich liefere sie dir sehr gern.«
»Einverstanden!« rief ich frohgemut, während ich zu einem neuen Blatt griff. Und so kam es, daß ich das einzige Gedicht zu Papier brachte, das wirklich wertvoll ist, und einen sehr langen Brief an Nicolas, doch genau in dieser Nacht begann ich auch mit dem ersten Teil meiner Cena oder Die Abendgesellschaft, die in den ersten sechs Monaten nach ihrem Erscheinen zehnmal nachgedruckt wurde. Schwer zu sagen, ob sie oder die Werke, die nachfolgen sollten, sich größerer Beliebtheit erfreuten. Ich jedenfalls machte mir damit einen Namen, oder besser gesagt einen Künstlernamen, nämlich »Chevalier de l'Aiguille«. Aber irgendwie war es auch Menanders letzter Fluch, denn in dieser Nacht war mir die Urteilskraft gegeben worden, echte Kunst von unechter zu unterscheiden. Aber gibt es ein grausameres Geschenk – insbesondere für einen Dichter?
An einem Spätnachmittag im Januar erschien ein dick vermummter Kurier an der Porte du Temple, einem der befestigten Tore der Pariser Stadtmauer. Sein schwitzendes Pferd dampfte in der Kälte, während er die Siegel eines Briefes zeigte. Nach einer kurzen Pause ritt er durch die engen Straßen in Richtung Louvre, und Vorbeikommende scharten sich um die Soldaten am Tor.
»Was ist los, was ist los?« riefen sie, als sie deren Mienen sahen und Geschrei und Jubelrufe hörten.
»Bei Gott, der Herzog von Guise hat Calais eingenommen!«
Doch der Kurier hörte die Jubelschreie nicht; er war bereits auf dem Weg nach Les Tournelles. Hunderte von Kerzen erleuchteten die schmalen Fenster der Salle Pavée, und die leise Musik schien im frühen Dunkel des Winters zu erstarren, als der Kurier die breite Freitreppe hinaufstieg. Der zweite Sohn des Herzogs von Nevers hatte sich vermählt, und dieses Ereignis feierte man mit einem Ball. Der König tanzte, und während die lange Reihe von Paaren bei der Pavane aufeinander zuschritt, wandte er zufällig den Kopf in Richtung des Tumults an der Tür und erblickte einen dunkel gekleideten Mann, der auf ihn zukam.
»Was gibt es, Robertet?« fragte er und verließ die Reihe. Die Musiker machten eine Pause.
»Majestät, der Herzog von Guise hat Calais eingenommen«, sagte der Sekretär des Königs. Kaum waren die Worte ausgesprochen, da verbreiteten sie sich auch schon im Raum und lösten Jubelrufe aus.
»Calais eingenommen? Wie, wann?«
»Die Engländer waren völlig überrumpelt. Nachdem die Marschen gefroren waren, haben unsere Kräfte sie mit einer Kanone überquert, sind in Stellung gegangen und haben die Außenfestungen eingenommen. Nach zwei Tagen Beschuß hatten wir eine Bresche in der Mauer, und gestern hat sich der englische Befehlshaber ergeben.« Das Weitere ging im Stimmengewirr, im Geschrei, in den Rufen nach einem Trinkspruch unter.
»Calais, die Unbesiegbare…«
»Ha! Rache für St. Quentin!«
»König Philipps englische Königin ist dumm – der Befehlshaber soll um Verstärkung gebeten haben, und sie hat ihm geschrieben, es bestünde keine Gefahr…«
»Frauen sollten nicht Krieg spielen…«
»Treibt die verdammten Engländer ins Meer.« Der König winkte zur Galerie, und die Musik setzte wieder ein – eine Trompetenfanfare, zu der sich Hochrufe gesellten. Wer freute sich nicht, daß das letzte englische Bollwerk in Frankreich genommen war? Doch am meisten freute sich wohl der Kardinal von Lothringen. Sein Bruder Guise war der Eroberer. Jetzt konnte Montmorency die Vermählung der Guise-Nichte Maria, Königin der Schotten, mit dem Dauphin nicht länger
Weitere Kostenlose Bücher