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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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sollte – nicht nur im November, sondern immer. Wir schrieben alles auf, wofür wir dankbar sein konnten … zu den Dingen, an die ich mich entsinne, gehörten unter anderem die Wolken, die Vögel, das Meer, Bücher, die Mustangs, unser Bruder (meistens, aber nicht immer!) und dass wir einander hatten. Es war bei uns an Thanksgiving Brauch, getrocknete Gräser und Pflanzen für die Tischdekoration in den Dünen zu pflücken. Das Besengras ist im November wunderschön, ist dir das schon einmal aufgefallen? Gold, braun, silber … noch etwas, wofür man dankbar sein kann! Grüße bitte deine Familie von mir.
    Alles Liebe, Kate Harris
    Maggie las den Brief zweimal. Das Gefühl der Traurigkeit, das sie beim Betreten des Hauses verspürt hatte, und die Enttäuschung darüber, dass Teddy noch nicht da war, waren verflogen, und sie war plötzlich aufgeregt. Kate hatte sie auf eine Idee gebracht: Unweit ihres Zuhauses, an dem Fußweg, der zu den Dünen führte, konnte sie einen Strauß getrockneter Gräser pflücken – er würde hübsch auf dem Esstisch aussehen und ihr außerdem das Gefühl geben, Kate näher zu sein.
    Sie mochte Kate, sehr sogar. Als sie gedacht hatte, sie sei das neue Kindermädchen, war sie glücklicher gewesen als jemals zuvor seit dem Tod ihrer Mutter. Kate war ein Mensch zum Anfassen, lustig und praktisch, aber manchmal auch ein wenig traurig. Das war wichtig. Sie brauchte eine Freundin, die nachempfinden konnte, wie es war, jemanden zu verlieren, wie man sich dabei fühlte.
    Als sie den Umschlag genauer betrachtete, wuchs ihre Aufregung, denn sie sah, dass er keine Briefmarke hatte. Hieß das, Kate war hier, in Silver Bay?
    Unentschlossen kaute sie an ihrer Lippe. Gramps war unten im Erdgeschoss, mit Maeve. Sie hörte ihre Stimmen, die zusammen mit dem Geruch der Silberpolitur bis nach oben drangen. Wenn sie ihn um Erlaubnis fragte, würde er ihr eine Kleinigkeit zum Essen zubereiten und sie ausfragen, wie es heute in der Schule gewesen war. Er würde sie vielleicht davon abhalten, das Haus zu verlassen … Teddy
mit Sicherheit.
    Sie hatte ja Hausarrest.
    Aber vielleicht galt »Hausarrest« nicht für ein so wichtiges Vorhaben. Dad meinte, sie wie ein Wickelkind behüten zu müssen. Seit wieder eine junge Frau ermordet worden war, waren alle doppelt vorsichtig. Sie verstand die Reaktion; ihr ging es genauso, und sie hätte sich nie irgendwohin begeben, wo sie sich nicht hundertprozentig auskannte, wäre NIEMALS zu einem Fremden ins Auto gestiegen.
    Er hatte ihr ausdrücklich verboten, allein nach Hause zu gehen. Aber eigentlich wollte sie ja nicht
nach Hause.
Sie wollte zu den offenen Feldern
rund um das Haus
, in der Nähe des Leuchtturms … das Gras, das dort wuchs, war für ihre Zwecke ideal.
    Wenn sie mit dem Rad dorthin fuhr, sich beeilte und ihren Korb mit getrockneten Gräsern füllte, konnte sie zurück sein, bevor jemand bemerkte, dass sie weg gewesen war. Teddy war noch nicht zu Hause, konnte aber jede Minute kommen.
    Nein, sie musste weg sein, bevor sein Trainer oder Mrs. Carroll vor dem Haus hielten und ihn aussteigen ließen. Er würde in ihr Zimmer kommen und fragen, wie es in der Schule gewesen war. Seitdem ihre Mutter tot war und ihr Vater fortwährend arbeitete, versuchte Teddy, ihre beides zu ersetzen. Deshalb hatte er versprochen, ihr bei den Platzkarten zu helfen. Ihr großer, starker Bruder, der Fußball spielte und nach Hause kam, um mit Maggie zu malen und zu basteln.
    Ihr Herz tat weh bei dem Gedanken, wie sehr ihr Bruder sie liebte. Ob er wohl wusste, dass ihre Liebe zu ihm genauso groß war? Während sie Kates Brief in der Hand hielt, schloss Maggie die Augen und setzte Teddy an die erste Stelle der Liste mit all den Dingen, für die sie dankbar sein konnte. Sie würde für ihre Familie, besonders aber für Teddy, den schönsten Tischschmuck machen, den man sich nur vorstellen konnte.
    Und sie würde sich nicht mit den getrockneten Gräsern begnügen.
    Dort wuchsen auch Wachsmyrte und Bittersüß, Geißblattranken und Efeu. Und Besengras, Goldrute, Hagebutten, Lavendel, wilder Thymian … und unten am Sandstrand konnte sie Kammmuscheln, Frauenschuh und Muschelschalen sammeln, um sie auf dem Tisch zu verteilen.
    Sie lief nach oben, um Kates Brief in ihrer Geheimschublade zu verwahren, dann nahm sie das Schweizer Armeemesser, um die harten Stängel abzuschneiden. Sie steckte es in ihre Hosentasche, als wäre wirklich ein Junge an ihr verloren gegangen.
    Und dann

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