Die geheime Welt der Frauen
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich glaube nicht mal, dass sie es weiß. Aber - sie bringt einen Mann zum Seder mit.«
»Wen? Doch nicht den vom Escortservice?«
»Nein.« Sima sah über die Schulter, um Timnas Reaktion mitzukriegen. »Es ist Nate.«
»Ihr Sohn?« Timna zog eine Augenbraue hoch. »Ich kann nicht glauben, dass ich ihn schließlich doch noch kennenlerne. Nach allem, was ich über ihn gehört habe.«
»Ich weiß«, antwortete Sima, erfreut, dass sie eine Reaktion bekommen hatte. »Ich auch. Ich hab ihn kaum gesehen, seit er nach dem College weggezogen ist, aber jedes Mal, wenn er niest, erfahre ich davon.« Sie beobachtete, wie Timna das schmutzige Wasser auf dem Boden verteilte und sagte sich, dass sie später mit Lev doch noch einmal wischen würde.
»Ah«, rief Timna aus, »da wir schon von Überraschungen reden,
ich hätte fast vergessen, es Ihnen zu sagen.« Sima hörte eine gezwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme und wandte sich sofort ab, weil ihr ein Angstschauer über den Rücken lief. Sie blickte auf die vielen Regalreihen vor sich, auf die Stapel von Schachteln auf jedem Bord - in keines konnte sie hineinkriechen, es gab keinen Raum, wo sie die Beine hineinziehen, eine Klappe herunterlassen, sich verstecken konnte.
»… ich hab nachgesehen, und L. A. gab’s auch zum Sonderpreis, also bin ich losgegangen und hab es gekauft: ein einfaches Flugticket nach Los Angeles, nicht erstattungsfähig.« Timna hielt inne, doch als Sima nicht antwortete, fuhr sie fort: »Er geht um sechs Uhr früh, am 23. April. Sechs Uhr früh - wann muss ich dann aufstehen?«
Sima ignorierte die Frage und hielt sich am Regal fest, weil sie das Gefühl hatte, das Flugzeug würde über ihren Körper hinweg abheben: Es raste von ihrer Hüfte zur Schulter, schnitt durch ihren Bauch, durch ihre Brust.
Timna verließ sie, der Vorhang fiel, die Lichter gingen aus - die größte Freude in ihrem bisherigen Leben war vorbei. Sie lehnte den Kopf an das Regal und atmete den feuchten Geruch des Holzes ein, der sie in die Sommer ihrer Kindheit zurückversetzte, als sie durch die Fontänen der Sprinkleranlage gehüpft war, die bis an die Wand ihres Bungalows in den Catskills hochspritzten, während ihre Mutter rauchend auf der vergitterten Veranda saß und mit anderen Frauen über Witze lachte, die Sima nie verstand.
»Sima?«
»Uhm?« Sima hob den Kopf und öffnete die Augen. »Ich bin bloß müde. Das Putzen vor Pessach«, sagte sie und streckte die Arme über den Kopf, »ist immer so anstrengend.«
»Vielleicht brauchen Sie auch Ferien?«
Sima stieg langsam die Leiter herunter. »Richtig, Ferien mitten
im Frühling.« Sie legte den Lappen ins Wasser und schwenkte ihn in einem grauen, seifigen Wirbel hin und her. »Vielleicht ist Ihnen aufgefallen«, fuhr sie fort und wrang den Lappen über dem Eimer aus, »dass ich zufällig einen Laden besitze.«
»Genau«, erwiderte Timna. »Er gehört Ihnen, also können Sie sich freinehmen.«
Sima sah Timna an. Der Luftzug, den das Flugzeug hinterlassen hatte, verschwand in ihrem Körper, wurde von den Zellen geschluckt, von den Adern fortgetragen. An seiner Stelle spürte sie eine Wärme in sich aufsteigen, konzentrierte sich darauf, wenigstens sie einen Moment lang festzuhalten, denn ihre Quelle war Timna - ihre blendende Schönheit. Sima nahm ihren Anblick in sich auf und wunderte sich, dass Timna selbst in Jeans, einem schwarzen T-Shirt und einem pinkfarbenen Tuch auf dem Kopf so strahlte. Sie badete einen Moment lang in diesem Licht, bevor sie die Leiter umstellte und sich an die nächsten Regalreihen machte. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte sie und wischte mit dem feuchten Tuch über das Holz, »vielleicht ist es an der Zeit wegzufahren.«
Timna schlug sofort eine Kreuzfahrt vor. Grünes Wasser von weißem Sand und Palmen umgeben. Sima nickte, heuchelte Interesse - Hawaii, Karibik oder Mexiko - und gab nicht zu, dass es ihr nicht um ein bestimmtes Ziel ging, sondern um Flucht.
»Lev«, sagte Sima, als sie am Nachmittag nach der Arbeit in die Küche kam. »Lev.«
Er blickte von seiner Zeitung auf. Sie hielt inne. Auf der kurzen Treppe hinauf zur Küche hatte sie sich vorgestellt, wie sie ihm verkündete, Timna gehe fort, und wie sie weinen und ihren Verlust betrauern würde. Auf den eins-zwei-drei-vier-fünfsechs-sieben Stufen hatte sie sich vorgestellt, wie sie die Neuigkeit herausschluchzte, und tatsächlich waren ihr Tränen gekommen,
und sie hatte einen
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