Die geheimen Jahre
»Ich will gleich auf den Punkt kommen, Miss Thorne. Auf Drakesden Abbey wird ein wertvolles Erbstück vermiÃt. Es wurde aus dem Safe genommen. Mein Sohn hat es mittags angesehen, und am späten Nachmittag wurde sein Verlust entdeckt. Nicholas hat mir gestanden, daà er den Safe geöffnet und es Ihnen gezeigt hat.«
Thomasine flüsterte: »Der Feuerdrachen wird vermiÃt?«
»Genauso ist es, Miss Thorne. Beabsichtigen Sie, ihn seinen rechtmäÃigen Besitzern zurückzugeben?«
Hilda rang nach Luft, und Rose stieà einen unterdrückten Schrei aus. Es dauerte einen Moment, bis Thomasine begriff, was Lady Blythe ihr unterstellte. Sie konnte kaum antworten. »Sie glauben, daà ich ⦠Sie glauben, ich hätte ihn genommen  â¦Â«
Rose sagte: »Die Dienerschaft â¦Â«
»Ich habe bereits mit der Dienerschaft gesprochen, Miss Harker. Ihre Unterkünfte wurden gründlich durchsucht.«
Hildas Gesicht war bleich, abgesehen von zwei roten Flecken auf ihren Wangenknochen. »Dann hat ein vorbeigehender Fremder ⦠Wenn Ihr Sohn vergessen hat, den Safe zu verschlieÃen â¦Â«
»Alle Welt weiÃ, wenn ein Fremder nach Drakesden kommt. Das ist Ihnen bekannt, Miss Harker. Miss Thorne hatte die Gelegenheit â laut meiner jüngsten Tochter hat sie Nicholas einmal verlassen, angeblich, um ihr Haar zu ordnen.«
»Angeblich!« Hilda rià der Geduldsfaden. »Lady Blythe â das ist grotesk â¦Â«
»Ihre Nichte hat es nicht bestritten, Miss Harker.«
Schweigend wandten sich Thomasine drei Gesichter zu. Tränen standen in Roses Augen. Hilda hatte sich mit geballten Fäusten zu voller GröÃe aufgerichtet. Nur Lady Blythe wirkte ungerührt, als verstünde sie nicht, daà ihre Version der Ereignisse überhaupt in Zweifel gezogen werden konnte.
»Das muà ich gar nicht abstreiten«, erwiderte Thomasine stolz. »Meine Tanten wissen, daà ich sie nie auf diese Weise beschämen würde.«
Roses kleine Hand umschloà die von Thomasine. Hilda sagte mit eisiger Stimme: »Ich glaube, Sie sollten gehen, Euer Ladyschaft. Es gibt nichts mehr zu besprechen.«
Lady Blythe ergriff noch einmal das Wort, bevor sie sich zum Gehen erhob.
»Sie sind auf Drakesden Abbey nicht willkommen, Miss Thorne. Sie werden nie wieder mit meinem Sohn sprechen. Ich würde Ihnen vorschlagen, sich eine anständige Arbeit zu suchen, falls Sie dazu in der Lage sind, und zwar so weit wie möglich von Drakesden entfernt. Mädchen Ihres Schlags geraten leicht auf die schiefe Bahn.«
Wesentlich später, als Hilda wütend Feuerholz hackte, fiel ihr wieder ein, was Thomasine gesagt hatte, nachdem Lady Blythe gegangen war. »Es waren nur Nicholas und ich, Tante Hilly. Nicholas zeigte mir das Haus, dann machten wir ein Picknick, und dann sind wir geritten. Das ist alles.«
Das ist alles . Aber es reichte, begriff Hilda. Für eine stolze Adelige wie Lady Blythe muÃte es Verdruà und Sorge bedeuten, wenn sie feststellen muÃte, daà ihr gutaussehender siebzehnjähriger Sohn einen Tag allein mit einem Mädchen aus dem Dorf verbracht hatte. Deshalb war Lady Blythe so wütend. Deshalb hatte sie Thomasine beschuldigt, etwas so Schlimmes getan zu haben.
Hilda schichtete die Scheite an der AuÃenwand des Hauses auf. Die gröÃte Ironie war, daà sie in diesem Punkt mit Lady Blythe vollkommen übereinstimmte. Genau wie Gwendoline Blythe hielt sie Nicholas für keinen passenden Umgang für Thomasine. Ihre gesellschaftliche Stellung, ihr Geburtsrang und ihre Stellung im Dorf bedeuteten, daà sie nicht auf gleicher Ebene mit ihm stand und nie stehen würde. Dennoch waren beide in einem Alter, in dem man zu Torheiten neigt. Hilda dachte an Nicholas Blythe, sein byroneskes Aussehen und seine abgehobene Stellung in Drakesden. Bei Daniel Gillory und Thomasine hätte sie nie Bedenken gehabt, weil Daniel die Regeln kannte.
Am späten Nachmittag kam Daniel endlich nach Hause. Ruth Gillory schickte die jüngeren Kinder aus dem unteren Zimmer nach drauÃen und stellte Daniel einen Teller mit Essen hin. Die Hammerschläge aus der Schmiede sagten ihm, daà sein Vater bei der Arbeit war.
Obwohl er den ganzen Tag nur eine Handvoll Blaubeeren gegessen hatte, stocherte Daniel in dem Knödel aus Brot und Schweinefleisch herum. Er war krank vor Angst. Man wurde nicht von Lady Blythe
Weitere Kostenlose Bücher