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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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beim Küssen ihrer Tochter erwischt und kam ungeschoren davon.
    Seine Mutter setzte sich ihm gegenüber. Nach ein paar Bissen stellte er fest, daß sie ihm etwas sagen wollte und nur die Worte nicht herausbrachte. Daniel schob den Teller beiseite, unfähig weiterzuessen. Seine Mutter drückte die losen Falten ihrer Schürze platt und sah ihn nicht an.
    Â»Der Pfarrer war hier«, sagte sie schließlich.
    Wie eine Faust fuhr die Angst in seinen Magen. »Und?« fragte er. Obwohl er wußte, was sie als nächstes sagen würde.
    Â»Er kann dir bei den Kleidern und den anderen Sachen nicht mehr behilflich sein. Es tue ihm leid, hat er gesagt.«
    Daniel wußte sofort, was geschehen war. Sie konnte ihn nicht einsperren lassen, weil er ihre Tochter geküßt hatte, also hatte sich Lady Blythe auf etwas anderes verlegt. Sie hatte ihm weggenommen, was ihm am wichtigsten war.
    Er spürte, wie sich die magere, schrundige Hand seiner Mutter auf die seine legte. »Vielleicht ist es so am besten, Sohn. Es hat doch ohnehin nur Schwierigkeiten gemacht.«
    Daniel sprang auf und warf dabei den Hocker um. Sein Zorn brachte den Kopfschmerz zurück. Er lief aus dem Cottage in den Sonnenschein hinaus, den Blick auf den verwahrlosten Acker gerichtet, ohne ihn jedoch zu sehen.
    Er wollte seine ganze Wut über diese Ungerechtigkeit aus sich herausschreien. Die ganze Brut der Blythes verfluchen, die ihn fahrlässig in ihr Leben einbezogen hatte, um ihn dann für diesen Fehltritt zu bestrafen. Er wußte, wie seine Zukunft jetzt aussehen würde: der schäbige kleine Besitz, die abgemagerten Tiere, die im Staub schnüffelten, die Hufschmiede. Er begann zu rennen, über Zäune zu springen, im Zickzack durch die Felder zu laufen, die das Land der Gillorys vom Deich trennten. Daniel zertrampelte das fast reife gelbe Korn und ließ eine tiefe Schneise im Kornfeld hinter sich zurück. Es machte nichts: Das Land gehörte den Blythes.
    Im Dorf starrten die Leute sie an und flüsterten. Thomasine wußte, daß sie in all den Jahren, in denen sie geglaubt hatte, ein Teil von Drakesden geworden zu sein, einer Täuschung erlegen war. Die Akzeptanz, die sie erfuhr, war nur äußerlich, jederzeit widerrufbar.
    Gerüchte verbreiteten sich in dem kleinen abgelegenen Dorf wie ein Lauffeuer, und zu viele waren geneigt, ihnen Glauben zu schenken. Selbst diejenigen, die sie als ihre Freunde angesehen hatte – Mrs. Carter vom Laden, Mr. Fanshawe, Mr. Naylor von der Chalk Farm –, alle schienen vorwurfsvoll auszusehen.
    Und doch hätte sie dies alles ertragen, wenn Daniel an ihrer Seite gewesen wäre. Seit dem Tag des Pfänderspiels hatte sie nicht mehr richtig mit ihm gesprochen. Seit dem Abend, an dem er sie geküßt hatte. Jetzt arbeitete Daniel den ganzen Tag für seinen Vater und würde, so ging das Gerücht, im September nicht in die Schule zurückkehren. Wenn sie mit ihm zu sprechen versuchte, waren seine Antworten einsilbig und geradezu provozierend knapp.
    Am Ende der Woche schrieb sie den Brief. Sie hatte eingesehen, daß sie nicht in Drakesden bleiben konnte, daß ihr die Engstirnigkeit und die armseligen Häuser unerträglich geworden waren. Sie brauchte mehr. Sie mußte wieder frei sein, sie brauchte eine Zukunft.
    Sie sagte Hilda und Rose nicht, was sie getan hatte, aber sie wartete ungeduldig auf Antonias Antwort.
    Die Liverpool Street Station in London war dicht mit Rekrutierungsplakaten beklebt. Auf dem Bahnsteig drängten sich Männer in khakifarbenen Uniformen und kurzgeschnittenem, stoppeligem Haar. In dem Gewimmel und dem zischenden Dampf der Lokomotive konnte Thomasine Tante Tony anfänglich nicht finden.
    Dann entdeckte sie sie – die kleine elegante Gestalt mit dem kastanienfarbenen Haar und dem großen, schwarzen, federgeschmückten Hut. Thomasine nahm ihren Koffer, bahnte sich einen Weg durch die Menge und zeigte dem Kontrolleur ihre Fahrkarte.
    Â»Was für ein Gedränge!« rief Antonia und lief auf sie zu, um sie zu begrüßen. »Laß dich anschauen, Liebling.«
    Sie hielt Thomasine auf Armeslänge von sich ab. Zum erstenmal seit Wochen mußte Thomasine lächeln.
    Â»Ach, Liebes, du hast ja immer noch dieses Haar! Komisch, nicht, daß nur wir beide es haben? Pat war natürlich blond, genau wie Rose. Deine Augen haben die gleiche Form wie Pats, aber meine Farbe. Laß mich

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