Die geheimen Memoiren der Jane Austen - Roman
Nichten und Neffen erfunden, hatte mich aber lange nicht mehr dazu angeregt gefühlt, eine zu erzählen, weder laut, noch mit Papier und Feder. Plötzlich jedoch begannen sich in meinemKopf Bilder und Töne zu formen, und meine Phantasie breitete ihre Flügel aus.
»Es war im Jahre 1637«, hörte ich mich mit leiser, dramatischer Stimme sagen, »und damals war die Abtei ganz anders, als das, was wir jetzt sehen.« Die Augen meiner Begleiter wandten sich interessiert zu mir.
»Fountain Court, wie man den Ort zu jener Zeit nannte, wirkte beinahe wie ein kleines Tudorschloss, mit seiner Fassade aus rotem Backstein, einem Türmchen und einem großen Turm im Norden. Es gehörte einem Mann, der hier nun schon viele Jahre lebte, seit dem Tode seiner jungen Ehefrau, nur in Gesellschaft seiner Bediensteten und seiner Jagdhunde. Der Mann hieß Philip Worthington, Graf von Monstro.«
»Der Graf von Monstro?«, fragte Mr. Ashford lachend.
»So einen Ort gibt es doch gar nicht!«, meinte Maria entrüstet.
»Oh, aber sicher«, beharrte ich.
»Den gibt es ganz gewiss«, stimmte Cassandra zu, »nämlich in Janes Phantasie.«
»Oh!«, rief Maria, deren Gesicht sich zum ersten Mal aufhellte, seit ich sie kennengelernt hatte. »Ich verstehe! Es ist eine
Geschichte
! Ich
liebe
Geschichten!« Damit wandte sie mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu.
»Zum Anlass seines vierzigsten Geburtstages«, fuhr ich fort, »beschloss Graf Monstro, sich eine Ehefrau zu nehmen. Ihr Name war …« (da Cassandra es nie mochte, wenn ihr Name in einer Geschichte vorkam) »… ihr Name war Maria.«
Maria klatschte entzückt in die Hände. »Ein hervorragender Name.«
»Maria, die wunderschöne Tochter eines reichenLandadligen, war fünfzehn Jahre jünger als Graf Monstro. Sie hätte jeden jungen Mann in der ganzen Grafschaft zum Ehemann haben können, aber Graf Monstro warb um sie und gewann ihr Herz in wenigen kurzen Wochen. Sie fanden an vielen Dingen gemeinsam Geschmack und teilten viele Interessen und Werte, und sie verliebten sich sehr. In den ersten Monaten ihrer Ehe erwies Graf Monstro seiner Frau die gleiche Zärtlichkeit und die gleiche Großzügigkeit, mit denen er während seiner Werbung ihr Herz erobert hatte. Er las ihr aus ihren Lieblingsbüchern vor, überhäufte sie mit Geschenken und sorgte dafür, dass sie immer ihre Leibspeisen bekam, ganz gleich zu welcher Jahreszeit. Und auch Maria war eine außerordentlich liebevolle Ehefrau, die hoffte, irgendwann einmal die Vollkommenheit zu erreichen, die sie in ihrem Ehemann sah.«
»Es klingt, als wäre es eine ideale Ehe gewesen«, meinte Mr. Ashford.
»So schien es«, sagte ich. »Aber es ging nicht lange gut.«
Kapitel 10
»Was ist denn geschehen?«, rief Maria ängstlich, als ich in meiner Erzählung eine kleine Pause einlegte.
»Ja, fahren Sie fort«, drängte auch Mr. Churchill.
Meine Gefährten lauschten alle gebannt, was für mich ein angenehm erregendes Gefühl war.
»So wie Graf Monstros Liebe zu seiner Ehefrau jeden Tag stärker wurde, nahm auch seine Sorge zu, sie könnte ihn eines Tages zu alt finden und verlassen. Obwohl Maria nichts tat, um diese Ängste zu wecken, wuchsen Graf Monstros Befürchtungen, bis er sie einmal in einem freundlichen Gespräch mit einem Bediensteten antraf. Da schäumte der Graf vor eifersüchtiger Wut, sprang auf sein Pferd und verschwand.«
»Verschwand!«, rief Cassandra. »Wohin ist er denn geritten?«
»Das war ja das große Rätsel. Tag um Tag verging, und Maria hörte nichts von ihrem Gatten. Sie war außerordentlich besorgt. Wo war ihr Graf? War ihm etwas zugestoßen? Lebte er überhaupt noch? Dann wurde sie eines Nachts durch ein schreckliches Geräusch aus tiefstem Schlummer gerissen: Es war ein gewaltiges Hämmern, das von oben aus dem Nordturm schallte.«
»O je«, rief Maria.
»Maria zog ihren Morgenmantel über, zündete eine Kerze an und machte sich auf den Weg zu der schweren Eichentür, die zum Nordturm führte. Sie klopfte laut an und rief: ›Wer ist da?‹ Niemand antwortete, allein dasschreckliche Pochen wurde noch lauter, so gewaltig, dass die Grundmauern des Hauses bebten.«
»War dieses Geräusch nur in ihrem Kopf? Oder haben es auch die Bediensteten gehört?«, erkundigte sich Mr. Ashford.
»Jeder hörte es, vom Lakai bis zum Stalljungen. Sie kamen alle ganz aufgeregt herbeigelaufen und versuchten, mit sämtlichen nur verfügbaren Mitteln, die Tür zu öffnen. Aber sie war von innen fest verriegelt. Es ließ
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