Die geheimnisvolle Limousine
den Weg kommt. Aber wie ging
es zu, daß der Wagen rechtzeitig nach links abbog, um
einen Zusammenstoß zu vermeiden?
Soja schaute sich unwillkürlich um. Vielleicht saß Bobrow
hinter ihr und machte sich über sie lustig? Der Wagen
konnte ja auch eine doppelte Steuerung haben. Aber der
Sitz hinten war leer. Die Aktenmappe mit dem zugezoge-
nen Riemen lag nach wie vor auf ihrem alten Platz, nur
der graue Hut war, anscheinend durch das scharfe Ab-
biegen, in die Ecke gerollt.
Nach einer weiteren Minute fand Soja das eben Erlebte
gar nicht mehr so erstaunlich, wie es ihr erst vorkam.
Wenn man einen Wagen zum Hupen bringen konnte,
warum sollte es dann nicht möglich sein, außerdem noch
22
einen Apparat einzubauen, der das Lenken übernahm?
Soja war sich zwar keine Minute darüber im Zweifel
gewesen, daß es für all diese kleinen Erlebnisse, die ihr
in der letzten Stunde widerfahren waren, eine Erklärung
geben mußte, sie war aber doch froh, daß sie nun eine
Lösung gefunden hatte, die ihr einleuchtend schien.
Ein Roman kam ihr in den Sinn, der davon handelte, wie
die Maschinen gegen ihren Schöpfer — den Menschen —
in Aufstand gerieten.
Was hatten sich die Schriftsteller nicht schon alles aus-
gedacht über die Zukunft, die die Menschen erwartet!
Da gab es unsichtbare Menschen, denkende Gegenstände
und eine vierte Dimension. Und in Wirklichkeit sah diese'
Zukunft ganz anders aus. Hundertmal schöner, als es sich
die kühnsten Phantasten vorgestellt hatten: Es war eine
Welt der vernünftig denkenden Mensdien, mit den von
ihnen geschaffenen Maschinen, die ihnen gehorchen, ihr
Leben erleichtern und ihnen Zeit sparen helfen.
Wieviel Uhr mochte es jetzt übrigens sein? Sicher wird
sie zu spät zu der Besprechung kommen.
Soja wollte auf die Leuchtzifferuhr neben dem Geschwin-
digkeitsmesser sehen, aber bevor sie ihre Absicht aus-
führen konnte, vernahm sie eine laute, deutliche Stimme:
„Vierzehn Uhr — fünfzig Minuten."
Es war die gleiche eintönige, ihr schon bekannte Stimme.
Sie kam diesmal von hinten, vom Rücksitz.
Soja drehte sich nicht erst um. Sie wußte, daß sie sowieso
nichts entdecken würde.
Entschlossen drückte sie auf das Pedal und ließ den
Wagen sausen. Je eher sie den Ingenieur sah, desto
schneller würde sie eine Erklärung für all diese Geheim-
nisse erhalten.
23
Das Wasserkraftwerk System Bobrow
Vom Staudamm schweifte Sojas Blick weit über die blaue
Fläche des Stausees bis zu dem dunklen Streifen Wald
am Horizont. Die sowjetischen Menschen hatten gelernt,
einfach und schön zu bauen. Der Bau mußte sich gut in
die Landschaft einfügen. Die verrußten Ziegelkästen, die
häßlichen langen Gebäude mit staubigen, zerschlagenen
Fenstern gehörten schon längst einer niemals wieder-
kehrenden Vergangenheit an.
Geschickt lenkte Soja den Wagen die steile, spiralförmige
Abfahrt hinab und fuhr zum Kraftwerk.
Sie ließ das Auto vor einem Blumenrondell stehen und
ging auf das weiße Gebäude zu. Die großen Fenster
reichten fast bis zur Erde und waren mit einem kunstvol-
len schmiedeeisernen Gitter versehen. An den Hausecken
standen gerippte Säulen, die das flache Dach stützten. Vor
dem Kraftwerk lag ein kleiner, viereckiger Platz, eine
Fontäne ließ ihr silbernes Strahlenbündel in die Luft
steigen, wasserspeiende Figuren säumten den Teich.
Ringsum war keine Seele zu sehen. Soja suchte mit den
Augen eine Tür, die die Aufschrift „Diensthabender
Ingenieur", „Eingang" oder ähnliches trug. Sie lief drei Seiten des Gebäudes ab. Den Zugang zur vierten ver-sperrten riesige Betonrohre, die das Wasser direkt in das
helle Gebäude leiteten.
Soja konnte nirgends einen Eingang entdecken. Es blieb
nur noch die große Tür, die, wie Soja anfangs dachte,
Dekorationszwecken diente. Die hohen, fast bis zum Sims
reichenden, oben abgerundeten Türflügel hatte man sicher
nur einmal geöffnet, nämlich als die Maschinen •— Tur-
binen und Generatoren — hineingeschafft 'wurden. Das
24
nächste Mal würde man sie aufmachen, wenn die Ma-
schinen ausgewechselt werden mußten oder die abge-
nutzte Einrichtung reparaturbedürftig war, .
Sollten die Ingenieure und Techniker, die Arbeiter und
Putzfrauen diesen Eingang wirklich täglich benutzen?
War er nicht etwas zu prunkvoll, selbst wenn man vor-
aussetzte, daß nur auf einen einfachen Knopf gedrückt zu
werden brauchte, um die ganze Herrlichkeit in Bewegung
zu setzen?
Weitere Kostenlose Bücher