Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Will Smith hatte recht, diese Stadt war unvergleichlich, ein bisschen moderne europäische Metropole, ein bisschen Bagdad, ein bisschen Provinz, eine Mischung aus Tausend und einer Nacht und moderner westeuropäischer Lebensweise. Zumindest war sie es bis zur Machtergreifung der Mudschaheddin. Als 1996 die Taliban, „die Männer ohne Wurzeln und Vergangenheit“, wie sie auch genannt wurden, die unter sich zerstrittenen und sich ständig bekämpfenden Mudschaheddin verdrängten und Kabul eroberten, kehrte Ruhe und Ordnung ein und das Mittelalter zurück.
Ich war seit achtzehn Jahren nicht mehr in der Hauptstadt Afghanistans gewesen. Kriegsschauplätze und Spannungsherde waren nicht die bevorzugten Reiseziele meiner Frau. Schon 1990 war die Reise ein riskantes und abenteuerliches Unternehmen mit Langzeitfolgen gewesen. Will Smith hatte mein kurzes Zögern bemerkt, ging aber nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: „Noch eine persönliche Frage. Ich weiß, Sie sind großer Fußballfan. Früher war ich Rugbyanhänger, aber seit dem ich mehr in Europa als in Amerika oder anderen Teilen der Welt beschäftigt bin, begeistere ich mich zunehmend für den Fußballsport. Ich habe mir für nächsten Monat Karten für das Endspiel in Wien besorgen lassen. Können Sie mir verraten, welche beiden Mannschaften ich sehen werde?“
„Deutschland gegen Spanien.“
„Ah, dass Ihre Mannschaft dabei ist, überrascht mich nicht. Aber den Spaniern hätte ich nicht zugetraut, ins Endspiel zu kommen.“
„Sie werden sogar Europameister.“
„Tut mir leid für Sie. Aber danke für den Tipp. Ich werde einen Dollar auf Spanien setzen. Das macht das Zuschauen spannender.“
Er war schon fast aus der Tür, als er sich noch einmal umdrehte. „Verzeihen Sie meine Hartnäckigkeit und Neugierde. Aber man hat nicht jeden Tag die Gelegenheit, in die Zukunft zu schauen oder schauen zu lassen. Was ist mit dem 21. Dezember 2012? Stimmen die düsteren Prognosen? Wird die Welt an diesem Tag untergehen? Ich habe leider auch schon aus internen Quellen die eine oder andere Andeutung in negativer Richtung vernommen.“
Ich wusste zwar, worauf er anspielte, ich kannte die Diskussionen um den Maya-Kalender und die verschiedenen Untergangsszenarien, aber mein Wissen reichte nur bis zum
24. Dezember 2008. Ich konnte in diesem Fall nicht mehr als raten. „Genaues habe ich noch nicht gesehen. Aber meine Intuition sagt mir, die Welt wird sich auch nach 2012 weiter drehen.“
„Wäre zu wünschen. Chaos ist gut, auch auf eine Milliarde Menschen mehr oder weniger kommt es nicht an, aber alle menschlichen Lebewesen sollten nicht gleich verschwinden, was soll sonst all die Macht und über wen soll man lachen? Ich hoffe, auf Ihre Intuition ist Verlass. Leben Sie wohl, Herr Turner.“
Ich schaute mich nochmals im Zimmer um und versuchte, mir jedes Detail einzuprägen. Dann setzte ich mich auf den Klavierhocker, schloss die Augen und schlug einige Tasten an. Ein voller, klarer, unvergleichlicher Ton erfüllte den Raum. Ich nahm mir vor, in den nächsten Jahren für solch ein Instrument zu sparen. Ich fand alles so unwirklich, dass ich jetzt auch in einer, bis vor einer halben Stunde mir völlig unbekannten Wohnung dem Klavierspiel frönen konnte. Ich spielte „My way“, jenen Titel, den Frank Sinatra zum Klassiker gemacht hatte. Ich wollte mich schon erheben, konnte mich aber von dem wundervollen Instrument nicht trennen. Ich spielte also noch ein Lied, sang dazu leise, sehr leise, meine Stimme war alles andere als schön. Es mochte nicht sehr einfallsreich sein, aber ich fand, der „Mackie-Messer-Song“ passte irgendwie zu diesem Tag und diesem Haus. „Und die einen sind im Dunkeln und die anderen sind im Licht, doch man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Ich schaute mir intensiv das Instrument an, jede Schramme im Lack prägte sich tief in mein Gehirn, schloss vorsichtig den Deckel und ging zur Tür. Sie wurde von außen geöffnet. Vielleicht gab es eine Überwachungskamera im Zimmer, die ihr Bild in andere Teile des Hauses sendete oder man hatte meine Schritte auf der anderen Seite gehört. Der Fahrer hatte immer noch seine Sonnenbrille und die Schirmmütze auf. Er deutete eine leichte Verbeugung an. „Bitte, der Wagen steht für Sie bereit.“
Fünfunddreißig Minuten später stand ich wieder vor meinem Wohnhaus und fragte mich, ob alles ein Traum gewesen sein könnte. Oder ein Doppeltraum.
Ich war an diesem Abend kein
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