Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
mir leid, dass ich dich hergeschleppt und in der Kälte frieren gelassen habe.“
„Macht doch nichts, jetzt kann ich in Thüringen erzählen, ich wäre in Berlin in der berühmten Bar Unter den Linden gewesen. Wir können uns doch bei dir zu Hause noch einen schönen Abend mit einem Punsch und dem Hören einer deiner Beatles Langspielplatten machen.“ Da war sie also - die Vergangenheit. Nun, ich hätte es schlimmer treffen können. Ich stimmte zu und fuhr nun wieder auf bekannten Gleisen.
Obwohl ich fast jede Minute in Erinnerung hatte, einfach weil diese ersten Tage des Verliebtseins so unglaublich intensiv waren, habe ich diese Zeit fast genauso genossen und empfunden wie beim ersten Mal. Später kamen ähnliche Höhepunkte, die aber nicht denselben Reiz wie beim ersten Mal ausübten. Als meine Frau in unserer Hochzeitsnacht aus dem Bad kam, hatte sie ein wirklich aufregendes schwarzrotes Negligé an, darunter einen Bikini, bei dem man zweimal hinschauen musste, um ihn einmal zu sehen, von dem man sogar fast vermuten konnte, die Betrüger aus des „Kaisers neue Kleider“ hätten ihn angefertigt. Die Wäschestücke hatte sie sich ohne mein Wissen von ihrer Tante aus Westdeutschland schicken lassen. Das Geld war gut angelegt und ich mehr als auf- und angeregt. Auch beim zweiten Male fand ich die erotischen Stücke faszinierend und anregend, aber es war nicht mehr die ganz große Überraschung. Wie bei einem gut gemachten Krimi, den man zwar mehrmals sehen kann, dessen Spannung durch die Kenntnis des Mörders ab dem zweiten Mal aber an innerer Anspannung und Mitfieberpotential verlieren wird.
Ich habe irgendwann in den 80er Jahren eine Schrift von Sigmund Freud gelesen, die genau das beschrieb, was die Wiederholung bewirkte: „Ein zum zweiten Mal angehörter Witz wird fast wirkungslos bleiben, eine Theateraufführung wird nie mehr zum zweiten Mal den Eindruck erreichen, den sie das erste Mal hinterließ; ja, der Erwachsene wird schwer zu bewegen sein, ein Buch, das ihm sehr gefallen hat, sobald nochmals durchzulesen. Immer wird die Neuheit die Bedingung des Genusses sein.“
Ein moderner Psychiater meint sogar, den neurochemischen Nachweis dafür gefunden zu haben, dass durch plötzliche Veränderungen ein großes Lustgefühl ausgelöst wird. Der Mensch wäre süchtig nach neuen Impulsen. Wenn dies stimmte, würden mir in den kommenden Jahrzehnten emotionale Defizite nicht erspart bleiben.
Die Neuheit fehlte in der Tat bei dem, was ich nun erlebte, aber ich versuchte, durch kleine Veränderungen, den Dingen und Ereignissen bislang unbekannte Gesichtspunkte abzugewinnen. Einige alltägliche Ereignisse hatte ich auch einfach vergessen, sodass sie mir fast neu vorkamen, gewissermaßen zum ersten Mal erlebt. Ich wollte auch bewusst Änderungen im Tages- und Lebensablauf vollziehen, dies war aber leichter gedacht und geplant, als getan. So wollte ich auf den Besuch bestimmter Lehrveranstaltungen verzichten, zum einen, weil sie aus meinem Kenntnisstand von 2008 heraus, völlig sinn- und überflüssig waren oder ich auf bestimmten Gebieten einen Wissensstand erreicht hatte, dass ich mir vorkam, als ob man einen promovierten Mathematiker in die erste Klasse schicken würde, um das Einmaleins zu lernen, zum anderen hatte ich mir vorgenommen, mehr Kenntnisse auf naturwissenschaftlichen Feldern zu erwerben, dazu hatte ich mir interessante Vorlesungen der Physiker und Biologen herausgesucht, insbesondere zur Relativitätstheorie und zur Hirnforschung. Was ich bei meinen Plänen vergessen hatte, war die Realität, die Art, wie das Studium organisiert und kontrolliert wurde.
Ein Mitglied jeder Seminargruppe musste bei den Veranstaltungen eine Anwesenheitsliste führen. Ein einmaliges Fehlen ohne Krankenschein wurde gerade noch toleriert, beim zweiten Fehlen gab es schon eine interne Aussprache mit den Seminarverantwortlichen, beim dritten unentschuldigten Fernbleiben musste man definitiv mit Strafmaßnahmen rechnen. Ein wiederholtes Fernbleiben von einer Vorlesung würde unweigerlich die Exmatrikulation nach sich ziehen. Für Langzeitstudenten und Faulenzer die denkbar schlechtesten Voraussetzungen. Aber auch für Individualisten. Ich wollte auf keinen Fall eine Exmatrikulation riskieren, denn ich liebte dieses Studium und auch ein Mathematiker sollte hin und wieder das Einmaleins üben, um den Boden seiner Wissenschaft nicht zu verlieren. Ich würde also alle Vorlesungen gehorsam besuchen, auch die aus späterer Sicht
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