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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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lächerlichsten, eine davon nannte sich: „Geschichte des sozialistischen Weltsystems“. Allerdings hatte ich stets interessante Lektüre in der Mappe, um den anderthalb Stunden neue Aspekte abzugewinnen und meinen Wissensstand auf anderen Gebieten zu erweitern. Außerdem hörte ich mit einem Ohr auf die Ausführungen der jeweiligen Dozenten, hin und wieder ertappte ich mich bei einem unterdrückten Lachen. Irgendwie konnten einem die Vortragenden in ihrer Naivität und festen Überzeugung, der weltweite Sieg des Kommunismus sei nur noch eine Frage der Zeit, fast leidtun. Anderseits war es leicht und arrogant über jemanden zu lachen, der dreißig Jahre der Geschichte hinterherhinkte. Ich lachte dann meistens aber doch, weil mir eingefallen war, dass ich einige der Dozenten ein Vierteljahrhundert später bei politischen Kundgebungen wiedergesehen und -gehört habe und sie die gleichen Sätze von damals wiederholten. Ich hielt es für unglaublich, dass man so wenig aus den geschichtlichen Veränderungen und Umwälzungen gelernt haben sollte. Neurowissenschaftler und Psychologen haben die durch viele Studien und Einzelbeispiele begründete Theorie aufgestellt, dass sich der Mensch in seiner Persönlichkeit und damit auch in seinen Ansichten und Handlungsstrukturen vielfach im Laufe seines Lebens verändern könne. Besonders Krisen und Extremsituationen, existenzielle Erschütterungen würden Wesensveränderungen, Umprogrammierungen unseres „Ich“ bewirken. Das Potential für grundlegende Wandlungen mag tatsächlich im Menschen, speziell auch in seinem Gehirn angelegt sein, aber meine persönlichen und durch die Sanduhr und ihre Folgen mehrfach wiederholten Erfahrungen zeigten mir, dass dieses Potential bei den wenigsten Menschen abgerufen wird. Der amerikanische Philosoph und Logiker Charles Sanders Peirce kannte noch nicht die späteren Theorien der Neurobiologen und Psychologen, aber er kannte die Geschichte und er kannte seine Mitmenschen. In einer kleinen Schrift aus dem Jahre 1877 hat er sich damit beschäftigt, wie Menschen ihre Überzeugungen festlegen würden. Die Erste von ihm erläuterte, nannte er die „Methode der Beharrlichkeit“. Sie scheint mir inzwischen nicht nur die Art zu sein, wie eine Handvoll altersstarrsinniger oder seniler oder gut geschmierter Politiker an ihrer Meinung festhält, sondern ist wohl bei einer überwiegenden Anzahl der Menschen schon immer die entscheidende Methode gewesen, ihr Leben zu meistern und stabil und damit glücklich zu bleiben. Egal wie die Welt sich verändert, wie viele Fakten gegen die bisherigen Überzeugungen sprechen mögen, man lässt sich von der Wirklichkeit nicht beirren, sondern deutet sie schlechtweg um und passt sie der bisherigen Weltsicht an. Es ist dies wohl auch der schlagendste Beweis gegen den Sozialdarwinismus. Hätte ein Tier den Hang sich zu täuschen oder sich täuschen zu lassen, wäre es wohl kaum einen einzigen Tag in der Lage, in der Wildnis zu überleben. Für den Menschen scheint es aber die Bedingung zu sein, um überhaupt als gesellschaftliches Wesen leben und glücklich werden zu können und – es zu bleiben.
    Alle Voraussetzungen der Natur werden verdreht. In der Gesellschaft läuft der Kampf ums Leben in letzter Instanz immer zuungunsten der Stärkeren, der Klügeren oder derjenigen, die die Wahrheit nicht verzerren. Und irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem auch der Starrsinnigste in Übereinstimmung mit den Fakten zu stehen scheint und er zumindest für eine Weile zur Avantgarde der Wahrheitsfinder zählen darf. So wie eine stehengebliebene Uhr zumindest zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigt.
    Ich hörte also viele der Vorlesungen mit einem halben Ohr, aber dreifachem Wissen und damit neuen Bewertungsmaßstäben. Die Seminardiskussionen wurden für mich dadurch nicht gerade leichter. Worauf sollte ich meine Behauptungen aufbauen, dass ich aus der Zukunft in die Vergangenheit zurückgekehrt sei und die praktischen Widerlegungen vieler Theorien erlebt hätte? Meine Exmatrikulation und eine stationäre psychiatrische Behandlung wären unvermeidlich gewesen. Die Exmatrikulation war ohnehin nur schwer abzuwenden.
    Denn nachdem Monique und ich zwei Wochen nach unseren vorgezogenen Flitterwochen nach Leipzig zurückgekehrt waren, fand ich in meinem persönlichen Brieffach eine Vorladung zum Sekretär der Studienabteilung. Wie vor dreißig Jahren.
    Ich erfuhr, dass mich ein Kommilitone in der Mensa gesehen und mein

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