Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
unentschuldigtes Verlassen des Studienortes bei der Studienabteilung gemeldet hatte.
10. Kapitel
Nun stand mir der gleiche (oder war es derselbe?) Ärger bevor wie beim ersten Mal. Ich musste auf eine Lüge und einen besonderen Arzt zurückgreifen. Beim „Verhör“ in der Studienabteilung beteuerte ich, dass ich schon mit einer Grippe angereist sei und mein Zustand sich soweit verschlechtert hätte, dass ich mich zu einer sofortigen Rückreise und zu einem Arztbesuch entschlossen hätte. Natürlich kam die obligatorische Frage nach dem Krankenschein. Ich meinte, der Arzt hätte mir einen ausstellen wollen, aber ich wäre der Meinung gewesen, eine schriftliche Bestätigung meiner Krankheit wäre unnötig, da der Studienbetrieb eingestellt worden sei. „War Ihnen nicht bekannt, dass alle angereisten Studenten zum Winterdienst verpflichtet waren?“
„Nein. Ich bin eine halbe Stunde nach meiner Ankunft sofort wieder abgereist. Das Fieber war gestiegen.“
„Sie sollten schleunigst zu Ihrem Arzt fahren und sich den versprochenen Krankenschein ausstellen lassen und ihn bis zum Freitag bei mir persönlich abgeben. Ansonsten werden Sie zusammen mit den anderen drei Studenten der Sektion, die sich unentschuldigt vom Studienort entfernt und dem Einsatz zur Aufrechterhaltung der sozialistischen Volkswirtschaft entzogen haben, zur Verantwortung gezogen.“
Der Mann hatte Schneid. Er war, wie ich vom Hörensagen wusste, auch dreißig Jahre lang bei der Armee Offizier gewesen, bevor man ihm nach Ende der Dienstzeit mit einem ruhigen und gut bezahlten Posten an der Universität in die Vorrente schickte. Ich war begeistert. So hatte ich mir meine Rückkehr in die Vergangenheit nicht vorgestellt. Ich wollte eigentlich nicht die gleichen Fehler wiederholen und mich auch nicht den gleichen unsinnigen Auseinandersetzungen und Diskussionen stellen. Aber nun musste ich mich wie gehabt in den nächsten Zug setzen und wieder einmal den Arzt meines Vertrauens aufsuchen. Dies würde abgesehen von der Fahrzeit mit mindestens vier oder fünf Stunden Wartezeit verbunden sein. Im Jahre 2008 beim Besuch eines Facharztes der Normalfall, aber zu DDR-Zeiten aufgrund der Anzahl der in Berlin niedergelassenen Ärzte eine seltene Ausnahme. Allerdings nicht bei diesem Arzt. Er war etwas ganz Spezielles: Sanitätsrat Dr. med. Kunstmann. Der Arzt, dem alle Arbeitsscheuen oder aufgrund zu hohen Alkoholkonsums Arbeitsunfähigen ihr Vertrauen schenkten. Er war schon weit über sechzig, hatte schneeweißes Haar, eine altertümliche Nickelbrille auf der Nase und etwas Nobles und Respekteinflößendes in seinem Auftreten. Vielleicht lag es daran, dass er als Arzt in der Wehrmacht gedient hatte. Ich hatte seine Adresse während meiner Abiturzeit von einem Klassenkameraden erhalten, dessen Eltern, ebenfalls Ärzte, mit dem alten Sanitätsrat befreundet waren. Dadurch besaß ich auch einige Hintergrundinformationen.
Dr. Kunstmann mochte die DDR nicht, vor allem nicht die diesen Staat Regierenden. Er machte aus seiner Einstellung keinen Hehl. Warum er dennoch bis zu seinem Tode frei praktizieren und seine mehr als kritische Meinung sagen konnte, blieb mir ein Rätsel. Er hatte seine Praxis in einem heruntergekommenen Teil des Bezirkes Prenzlauer Berg. Wer damals dort wohnte, gehörte zum Bodensatz der Gesellschaft. Vielleicht war man froh, überhaupt einen Arzt zu haben, der bereit war, in dieser Region seine Tätigkeit auszuüben. Allerdings kamen im Laufe der Jahre auch immer mehr Langschläfer, Freizeitsucher und Arbeitsverachtende aus anderen Bezirken der Stadt. Wahrscheinlich gab es keinen anderen Arzt, der so viele Patienten in seiner Kartei hatte. Er hielt sich auch offensichtlich nicht an die offiziellen Vorgaben, möglichst wenige Bürger, möglichst kurzzeitig krankzuschreiben. Die Volkswirtschaft brauchte Arbeitskräfte. Der Krankenstand musste niedrig gehalten werden. Dr. Kunstmann interessierten solche gesamtgesellschaftlichen Erfordernisse wenig. Über seine fachlichen Fähigkeiten vermag ich nichts zu sagen, ich wurde von ihm nie untersucht. Mir ging es in den drei Fällen, die ich diese Praxis aufsuchte, nur um den Krankenschein. Neunundneunzig von hundert meiner Mitpatienten waren sicher aus demselben Grund im Wartezimmer oder auf der Treppe. Manchmal begann die Schlange der Wartenden sogar am Hauseingang. Dann musste man viel Zeit und Geduld aufbringen, sich den Krankenschein gewissermaßen verdienen. Die Wartezeit war schwer
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