Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
hatte, wie der Volksmund sagt, einen Narren an mir gefressen. Die Sympathie blieb all die Jahre hindurch auf einem hohen Niveau, zumal ich ihr alle paar Monate einige Tafeln Sarotti Schokolade, Echt Kölnisch Wasser 4711 oder Jakobs-Kaffee schenkte, Präsente, die mir meine Großmutter von ihren Abstechern nach Westberlin mitgebracht hatte. In einer Hinsicht kam ich ihr aber entgegen, um ihr Schwierigkeiten mit offiziellen Stellen zu ersparen. Sie bat mich, die Antenne, die weit sichtbar auf der westlichen Seite des Gebäudes ins Freie ragte, am Tage abzumontieren und erst in den Abendstunden anzubringen. Ich war bereit, diesen Kompromiss zu schließen.
Das erste Jahr meines wiedergewonnenen Lebens verlief recht ruhig, von dem im Westen Anfang 1979 groß propagierten Manifest von SED-Kritikern, das vom „Spiegel“ veröffentlicht worden war und als Beleg für wachsende innerparteiliche Opposition gewertet wurde, wusste kaum einer Studenten. Es spielte überhaupt keine Rolle. Ich war der Einzige in der Seminargruppe, der den „Spiegel“ und dieses Manifest überhaupt gelesen hatte. Mein Onkel, angestellt bei einer großen Tageszeitung Westberlins, brachte einmal im Monat den „Spiegel“ und die „Bildzeitung“ aus dem Westteil Berlins mit. Es war streng verboten, Presseerzeugnisse einzuführen, aber er war kein ängstlicher Typ und er steckte die Zeitschriften oder Tageszeitungen meist ganz offen in seine Mantel- oder Sakkoseitentasche. Ein einziges Mal war er kontrolliert worden und hatte überrascht getan, als der Grenzposten ihn zur Rede stellte. Er musste die „Bild-Zeitung“, die er bei dieser Kontrolle bei sich trug, in einen Abfalleimer werfen und bekam eine Verwarnung. Womit er leben konnte und ermutigt wurde, weiter „Feindpropaganda“ zu seinen Verwandten nach Ostberlin einzuschleusen. Als ich diesmal das erwähnte „Manifest“ las, wurde mir klar, warum dieses Pamphlet keine Chance hatte, wie meine Oma immer zu sagen pflegte, einen Hund hinter dem Ofen hervor zu locken. Das trockene und zum Teil schlechte Deutsch und die langweiligen Formulierungen wären sicher kein Hinderungsgrund gewesen, eine Breitenwirkung zu erzielen. Aber die Forderungen wären schon veraltet gewesen, wenn sie gleich nach dem Prager Frühling aufgestellt worden wären und mit der seelischen Befindlichkeit der Masse der DDR-Bevölkerung hatten die postulierten Richtlinien und nationalen und internationalen kommunistischen Ziele der parteiinternen Oppositionellen wohl kaum etwas zu tun. Die DDR-Führung reagierte aber doch zunehmend empfindlicher auf jede Form der Kritik, vor allem von jenen, die in der Bevölkerung als intellektuelle Reformer wahrgenommen wurden. Wissenschaftler wie Robert Havemann oder Schriftsteller wie Stefan Heym galten als aufrechte Sozialisten, die das System nicht abschaffen, sondern verbessern wollten.
Im Parteilehrjahr des Monats Juli wurde nicht zufällig von den Agitatoren die Notwendigkeit einer Verschärfung der Gesetze gegen politische Gegner, die dem Imperialismus in die Hände spielen würden, erläutert. Ende Juni 1979 hatte die Volkskammer ungenehmigte Veröffentlichungen von DDR Bürgern im Westen als staatsfeindliche Hetze verboten und mit Gefängnis bedroht. Robert Havemann und Stefan Heym wurden wegen Devisenvergehens verurteilt. Dies erzeugte tausendmal mehr Diskussionsstoff als das Manifest vom Januar. Das Lesen der „Spiegel-Ausgabe“ regte mich dennoch an, denn ich las diesmal die anderen Beiträge aus der Sicht eines Menschen, der die Zukunft schon erlebt hatte und dem die folgenden Diskussionen bekannt waren. So studierte ich mit besonderer Aufmerksamkeit einen Beitrag, der sich mit den psychischen Verhaltens-störungen der Kinder und Jugendlichen der BRD beschäftigte. Die Studie kam zu dem Schluss, das etwa die Hälfte aller bundesdeutschen Kinder und Jugendlichen unter psychischen und Verhaltensstörungen litten. Die Pädagogik der 68er hatte sicher auch ihren Anteil an dieser Entwicklung. Ich musste in diesem Zusammenhang an die Vorwürfe denken, die in den 90er Jahren von Psychologen und Politikern gegen die DDR-Pädagogik erhoben wurden, der man unterstellte, zu einer Deformation der psychischen Anlagen der Kinder geführt zu haben. Das gleichzeitige Auf-den-Topf-gehen-müssen der Kinder vor dem Mittagsschlaf im Kindergarten sei ein klares Beispiel für die Unterdrückung der individuellen Anlagen und kreativen Kräfte der Kleinkinder in der DDR gewesen.
Als ich nun
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