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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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streiken und die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Gesellschaft gefährden. Der Gewerkschaftsbund arbeite mit der führenden Partei und den anderen Parteien der Volkskammer zusammen. Seine Hauptaufgabe sei die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Werktätigen in den jeweiligen Betrieben, nicht aber das Herbeiführen gesamtgesell-schaftlicher Veränderungen. Trotz aller mehr oder minder überzeugenden Argumente nahm die Unruhe bis Dezember erheblich zu. Ein Germanistikstudent, der in einer Versammlung die Forderung aufstellte, der Gewerkschaftsbund müsse sich ein Beispiel an den unabhängigen Gewerkschaften Polens nehmen, wurde kurze Zeit darauf exmatrikuliert. Anfang Dezember während einer Diskussion beim Essen in der Zentralmensa riss mir der Geduldsfaden. „Macht euch mal keine Gedanken über die vielen imperialistischen Agenten in der Solidarnosc, in Kürze wird man diese Organisation verbieten und General Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen verhängen.“ Die vier Kommilitonen meiner Seminargruppe prusteten fast ihr Essen wieder aus dem Mund. Dann herrschte eisiges Schweigen. Ich weiß nicht, wer der vier Mitstudenten revolutionäre Wachsamkeit zeigte und meine Äußerung der Studiendirektion meldete. Bereits einen Tag später erhielt ich nach einem Seminar vom Seminarleiter einen Zettel, auf dem ein Vorladungstermin für die Studienabteilung vermerkt war. Gegen 15.00 Uhr saß ich wieder einmal dem ehemaligen NVA-Offizier gegenüber, dieser wurde flankiert von einem mir nicht bekannten Herrn Anfang vierzig in einem billigen brauen Anzug. Dieser ergriff sofort das Wort. „Wir möchten wissen, warum einer der besten Studenten der Sektion in einer angespannten politischen Situation konterrevolutionäre Äußerungen verbreitet?“ Ich wollte am liebsten aufstehen und sagen: „Leckt mich am Arsch. Was soll der Blödsinn? In ein paar Jahren gibt es die DDR nicht mehr, seid ihr aus dem Rennen und gießt nur noch die Blumen auf eurer Datsche.“ Aber ich mochte keine Kraftausdrücke und die mir bevorstehenden Forschungs- und Lehrjahre waren eigentlich die schönsten und erfülltesten Berufsjahre bis zur Wende. Warum sollte ich darauf verzichten, wenn ich die Entwicklung ohnehin nicht beeinflussen konnte?
    „Welche meiner Äußerungen haben Ihrer Meinung nach konterrevolutionären Charakter besessen?“
    „Entspricht es den Tatsachen, dass Sie behauptet haben, die Solidarnosc würde verboten werden und unsere polnischen Genossen in Kürze das Kriegsrecht ausrufen?“
    Ich nickte. „Das habe ich gesagt. Aber warum ist das eine konterrevolutionäre Äußerung? Ich denke, dies ist nur eine logische Konsequenz. Soweit ich im FDJ-Lehrjahr hörte, handelt es sich bei der Solidarnosc um eine von westlichen Agenten unterwanderte Organisation, die Unruhe schüren und das Land destabilisieren soll. Es wäre doch nur angemessen und notwendig, dem imperialistischen Treiben ein Ende zu setzen.“
    Der Herr im braunen Präsent-20-Anzug lächelte. „Natürlich haben Sie recht. Auch unsere Partei ist der Meinung, dass unsere polnischen Genossen unbedingt gegen die Aktivitäten der reaktionären Kräfte vorgehen müssen. Aber Sie können doch nicht laut auf dem Universitätsgelände solche Parolen verbreiten.“
    „Ich habe lediglich in einem kleinen Kreis meiner Mitstudenten, die doch sicher zuverlässige Sozialisten sind, meine Schlussfolgerung aus der bisherigen Situation gezogen.“ Die beiden Herren blickten sich kurz an. „Es wäre zu wünschen, dass Ihre Schlussfolgerung Wirklichkeit wird. Nun, offensichtlich ist da doch einiges bei uns falsch angekommen. Dennoch möchten wir Sie ersuchen, in Zukunft solche Bemerkungen nicht mehr laut zu tätigen. Es könnte zu bösen Diskussionen führen, es gibt auch in der Studentenschaft einige, die die Zeichen der Zeit nicht begriffen haben und mit ihren Argumenten und ihrem Auftreten unserer sozialistischen Sache Schaden zufügen.“ Ich antworte nicht, was sollte ich diesen beiden Gestalten auch sagen. Ich hätte ihnen die Zukunft detailliert schildern können, aber sie hätten mir nie geglaubt, wahrscheinlich nicht einmal im Jahre 2008. Wenige Tage später, in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember wurde in Polen das Kriegsrecht ausgerufen, die Solidarnosc verboten und ihre Führung verhaftet. Bereits am nächsten Tag gab es eine außerordentliche Sektionsversammlung, in der alle Lehrkräfte und Studenten zu erhöhter Wachsamkeit aufgefordert wurden. Der

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