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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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erwerben, sondern gleich drei. Er wollte, wie er in seiner Rechtfertigung ausführte, zwei Zimmergenossen auch Butter mitbringen. Um die Herausgabe gewissermaßen zu erzwingen, öffnete er die Verpackung der Butter und biss in jedes der drei Stücke hinein. Ein Verkauf an andere sei damit ausgeschlossen, dachte er. Woran er nicht dachte, war die Reaktion der Verkäuferinnen. Diese waren außer sich vor Zorn und riefen die Polizei. Die Volkspolizisten nahmen seine Personalien auf und bereits am nächsten Tag wurde die Sektionsleitung über den skandalösen Vorfall informiert. Diese berief für den gleichen Abend eine Sektionsversammlung ein. Natürlich ging es um das unsozialistische, das asoziale Verhalten des Studenten. Er musste vor der Leitung, den Lehrkräften und allen Studenten eine mündliche Stellungnahme abgeben. Er wirkte völlig verunsichert, man merkte, dass er sich die Folgen seines Handelns nicht einmal ansatzweise überlegt hatte. Er wollte die Butterstücken doch nicht alle für sich alleine haben. Und außerdem wollte er die Verkaufskräfte ein bisschen ärgern. Diese hätten ihm auf seine Frage, ob er denn nicht für seine Kommilitonen zwei weitere Stücken kaufen und mitbringen könne, eine beleidigende Antwort gegeben. Er hätte erzählen können, was er wollte. Seine Exmatrikulation stand bereits vor der Versammlung fest. Aber man wollte ein Exempel statuieren. Gerade in einer wirtschaftlichen Engpasssituation müsse man von der Elite des Landes erwarten, dass sie mit gutem Beispiel voranginge und sich nicht benehme wie egoistische asoziale bürgerliche Elemente. Die Abstimmung fiel wie fast immer einstimmig aus. Ich hatte mich im Nachhinein über mich selbst geärgert, mochte das Verhalten auch nicht gerade sehr klug und rücksichtsvoll gewesen sein, ich konnte mich mit ihr keineswegs identifizieren, eine Exmatrikulation und Zerstörung eines Lebenslaufes rechtfertigte es auf keinen Fall. Zumal ich die erwähnten Verkaufskräfte aus diesem Konsum kannte, sie mochten keine Studenten und ich konnte mir ihre sächsischen Schimpftiraden lebhaft vorstellen, die wahrscheinlich diese Trotzreaktion mit hervorriefen. Diesmal beschloss ich, bei der Frage nach der Exmatrikulation mit „Nein“ zu stimmen. Als der Versammlungsleiter nach Gegenstimmen fragte, blickte er nicht einmal auf, es schien undenkbar zu sein, dass jemand sich der Notwendigkeit einer sofortigen Exmatrikulation dieses unbotmäßigen Studenten verschließen könnte. Zumal die Exmatrikulation schon beschlossene Sache war und von keiner Abstimmung abhing. Ich hob meinen Arm. Völlig überrascht musste ich feststellen, dass ein Assistent meines Bereiches sich meiner Neinstimme anschloss und, nachdem unsere Arme weit sichtbar gegen Hörsaaldecke ragten, gingen vier weitere Arme von Studenten des 1. Studienjahres nach oben. Es herrschte plötzlich absolute Stille. Der Versammlungsleiter räusperte sich zweimal. Dann meinte er: „Es gibt sechs Neinstimmen.“ Sein Nachbar flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Ach ja, gibt es Stimmenthaltungen? Nein? Dann stelle ich fest, der Antrag auf Exmatrikulation wegen unsozialistischen Verhaltens wurde mit einhundertzwölf zu sechs Stimmen angenommen.“
    Ich schaute auf Tommy, meinem Kollegen. Wir hatten genau an diesem Tage Freundschaft geschlossen, beim ersten Mal, als wir nach der Versammlung über den Fall diskutierten und merkten, dass wir einer Meinung waren und die falsche Entscheidung getroffen hatten. Diesmal war unser Bund besiegelt, als unsere Arme gemeinsam nach oben schnellten. Ich fühlte mich wohl, egal ob man etwas ändern konnte oder nicht, eines konnte man ganz sicher und dies war der Anfang aller wirklichen Veränderungen in der Welt: Man konnte sich selbst ändern. Mir fiel ein Spruch von Pythagoras ein, den ich als Zwölfjähriger so spannend und für mich relevant empfand, dass ich ihn allen Mitschülern, die mir ihr Poesiealbum übergaben, um einen klugen Spruch und Namen und Datum darin zu verewigen, einschrieb. Die meisten der Mitschüler bevorzugten andere kluge Lebensweisheiten wie: Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken, nur das eine nicht, es heißt Vergissmeinnicht! Oder: Sei wie das Veilchen im Moose, so sittsam bescheiden und rein, und nicht wie die prahlende Rose, die immer bewundert will sein. Diese Leidenschaft, die alle Fünf- und Sechsklässler erfasst hatte, erregte auch keinen Widerspruch im Lehrerkollegium, bis unsere Klassenleiterin von einer Schülerin gebeten

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