Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Armeejargon gewöhnt, alle Angehörigen der Nationalen Volksarmee und der anderen sogenannten bewaffneten Organe wurden grundsätzlich mit „Genossen“ angesprochen, oder aber er setzte voraus, das zu einem so staatswichtigen Treffen nur bewährte Parteikader geladen worden wären. „Wir ihr sicher wisst, befinden wir uns in einer schwierigen Phase der Entwicklung des sozialistischen Weltsystems. Der Imperialismus versucht mit allen Mittel, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Seit dem Regierungsantritt Ronald Reagans 1981 sieht sich die sozialistische Staatengemeinschaft einem verstärkten wirtschaftlichen, politischen und latent militärischen Druck ausgesetzt. Man versucht durch eine forcierte Rüstung, nicht nur militärische Stärke zu beweisen, sondern will die Volkswirtschaften der sozialistischen Staaten schwächen. Hinzu kommt eine verstärkte ideologische Diversion, mit der man Unruhe in die Bevölkerung tragen will. Wir sind an einem entscheidenden Punkt der Geschichte angekommen, in den nächsten Jahren werden wir die Überlegenheit des sozialistischen Systems unter Beweis stellen müssen. Wenn wir die historische Mission der Arbeiterklasse verwirklichen wollen, dürfen wir keine einzige Option ausschließen. Auch die militärische nicht.“
Ich dachte, ich hätte mich verhört und muss einen Blick aufgesetzt haben, wie ihn Stan Laurel in Dutzenden seiner Filme seinem Filmpartner Oliver Hardy gegenüber zeigte.
Der Oberst sprach unbeirrt weiter. „Natürlich wäre dies die letzte Option. Aber es ist weitaus erfolgversprechender, einem Angriff zuvorzukommen, als ihm in Verteidigerposition zu begegnen.“
„Entschuldigen Sie, eine Zwischenfrage. Ich dachte, dass sich im Zuge der friedlichen Koexistenz und der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, vor allem der Folgekonferenz in Madrid, die 1983 beendet wurde, eine Entspannung des Ost-Westkonflikts ergeben hätte und es keine unmittelbare Kriegsgefahr mehr gäbe?“ Ich erhielt einen abstrafenden, fast kritischen Oliver-Hardy-Blick. „Ich möchte dich doch bitten, auf diese bürgerliche Ausdrucksweise „Ost-West-Konflikt“ zu verzichten. Es geht hier um die grundsätzliche Auseinandersetzung zweier gegensätzlicher, unvereinbarer gesellschaftlicher Systeme im Weltmaßstab.“ Ich war in den letzten Jahren mehr als einmal, wie der Volksmund sagt, ins Fettnäpfchen getreten, weil ich Ausdrucksweisen und sprachliche Formulierungen verwendete, die ab 1990 zum Alltag aller deutschen Bundesländer gehörten.
„Und was die Frage der Kriegsgefahr anbelangt, kann ich nur sagen, wenn wir nicht so wachsam und gut gerüstet wären, hätten die aggressiven imperialistischen Kräfte schon längst einen Krieg gegen alle fortschrittlichen Länder riskiert. Worum es in der gegenwärtigen Situation aber geht, ist es, dem Feind im Denken und Handeln voraus zu sein. Wir können und werden nicht zulassen, dass man uns totrüstet und in einen wirtschaftlichen Kollaps drängt. Es ist wichtig, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Wir haben in unserem Ministerium verschiedene Projekte ausgearbeitet, die einen Beitrag zum Sieg des Sozialismus leisten werden. Bei einem dieser Projekte möchte das Ministerium für Nationale Verteidigung gerne auf eure Forschungsergebnisse und Erfahrungen zurückgreifen. Es dürfte sich von selbst verstehen, das nichts von dem, was ich euch berichte und worüber wir hier sprechen werden, den Raum verlässt. Ihr seid zur absoluten Geheimhaltung verpflichtet.“ Er schaute sich befehlsgewohnt in der Runde um. Es herrschte ein gespanntes Schweigen. Der Bereichsleiter versicherte ihm, dass alle Anwesenden zuverlässige Sozialisten und die besten ihres Faches wären. „Das habe ich vorausgesetzt. Nun zum inhaltlichen Teil. Wir können nicht ausschließen, dass die Besetzung der BRD oder zumindest Westberlins in absehbarer Zeit notwendig wird.“
Mir fiel die Kinnlade nach unten und mein Herz schlug schneller. Viele Jahre später, 2002, stellte George W. Bush Junior seine strategische Doktrin vom Präventivschlag als Vorbeugung gegen mögliche Attacken dem amerikanischen Kongress und damit der Weltöffentlichkeit vor. Er hatte vielleicht durch den Geheimdienst oder durch Geschichtsdokumente von den bahnbrechenden Siegstrategien des Ostblocks erfahren und wollte sie auf die neuen Bedingungen anwenden. Ein Neuerer war er jedenfalls nicht. Ich hatte in meiner Naivität alles für möglich gehalten, auch eine atomare
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