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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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studierten Literatur zur Ritterkultur und diskutierten dann neunmalklug darüber. Zum Abschlussfest der 10. Klasse führten wir ein von einem Schulfreund und mir geschriebenes Theaterstück über den Untergang des Ritterstandes auf. Wir nahmen uns ein Beispiel an Goethes „Götz von Berlichingen“, der Erfolg unseres Dramas war etwas kleiner als der des Schauspiels von Goethe, aber dafür hatten wir weitaus mehr „action“, sehenswerte Schaukämpfe mit Holzschwertern und Schildern, die früher als Kochdeckel gedient hatten. Das Stück umfasste keine fünf Akte und dauerte auch keine fünf Stunden, sondern war nach dem ersten Aufzug und knapp fünfzehn Minuten und zehn gesprochenen Worten beendet: Wir waren innovativ und nahmen die späteren Rambo-Filme vorweg. Aber der Applaus gab uns Motivation zum Weitermachen und der Ritterclub zählte nach einem Jahr fast dreißig Mitglieder. Erst als ein neuer Geschichtslehrer die Oberaufsicht über die Arbeitsgemeinschaft übernahm und auch die marxistische Interpretation der Geschichte und des Mittelalters als Vorstufe der kapitalistischen Gesellschaftsordnung uns auf sehr Gähnen verursachende Weise vermittelte, entschlossen wir uns umzuschwenken und einen Indianerclub zu gründen.
    Über meinen Eintrag in die diversen Poesiealben wurde nicht mehr gesprochen, aber ich habe diese Weisheit nicht vergessen und bei der Abstimmung wurde er wieder lebendig. Ich ärgerte mich, dass ich ihn nicht schon viel früher und öfter beherzigt hatte. Für mich blieb die Abstimmung ohne Folgen, ich wurde nicht einmal nach den Gründen für meine Entscheidung gefragt. Den vier Studenten des 1. Studienjahres erging es schlechter, sie mussten schriftliche Stellungnahmen abgeben und an drei Wochenenden hintereinander unentgeltliche Aufbaustunden in der Moritzbastei leisten, dem Studentenclub, der in jahrelanger, mühsamer ehrenamtlicher Arbeit von Studenten der Universität auf- und umgebaut wurde. Am schlimmsten traf es Tommy. Er hatte zwei Gespräche in der Studienabteilung und eine Aussprache mit unserem Bereichsleiter. Er hielt sich wacker, stand ohne Reue oder Selbstkritik zu seiner Entscheidung. Seine Jahresendprämie wurde, natürlich mit einer anderen Begründung als sein Wahlverhalten, gestrichen und zu einer wissenschaftlichen Konferenz in Prag schickte man einen anderen Mitarbeiter der Sektion. Ich bestärkte ihn in seiner Haltung und malte ihm eine solide Zukunft aus, wusste ich doch, dass er einer der wenigen sein würde, der auch Jahre nach der Wende noch erfolgreich an der Universität lehrte und ein hohes Ansehen bei den Studenten genoss. Er fragte mich bei einer Tasse Kaffee, warum ich den nicht zu einem Gespräch vorgeladen worden sei. Wahrheitsgemäß antwortete ich. „Kann ich dir nicht genau sagen. Ein Student hat mir unter vorgehaltener Hand berichtet, es gäbe das Gerücht, ich hätte einen Onkel in exponierter Stellung in Berlin.“
    „Und, hast du?“ fragte mich Tommy. Ich nickte. „Ja, ich habe einen Onkel, der in Westberlin lebt und als Journalist bei der Bildzeitung arbeitet.“
    Tommy verschüttete vor Lachen seinen Kaffee. „Das ist nicht dein Ernst?“
    „Doch. Das ist die Wahrheit. Aber die brauchst du ja nicht allen zu verkünden.“
    „Werde ich nicht, jetzt, wo ich einen Kollegen und Freund habe - mit solch ausgezeichneten Beziehungen. Man wird mich um meine Freundschaft zu dir beneiden. Vielleicht lässt man mich in Zukunft auch wieder zu Tagungen und Konferenzen reisen.“ Er musste wiederum gluckernd lachen. „Das Leben mag vieles sein. Es ist vielleicht nicht gerecht, es mag mühsam sein und belastend, aber eines ist es nicht: langweilig. Es ist einfach verrückt und wer nicht darüber lachen kann, besitzt keinen Verstand oder keinen Humor und nur diese beiden machen das Leben erträglich.“
    „Wohl wahr, großer Philosoph. Ich empfehle dir, in den nächsten Jahren diese Einsicht dir selbst sehr zu Herzen zu nehmen und praktisch umzusetzen. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Alles wird gut.“ Er wusste in diesem Augenblick nicht, worauf ich hinaus wollte. Er schaute mich nur grübelnd und fragend an. Knapp zwei Jahre später sollte ich mein Schweigen brechen und ihm mein Geheimnis offenbaren. Von dann würde ich wenigstens einen Menschen haben, mit dem ich über die Sanduhr sprechen konnte, ohne von den Pflegern der Psychiatrie in Gewahrsam genommen zu werden. An die Folgen für seine Psyche und sein Leben dachte ich in diesem Augenblick

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