Die Geier
Rolltreppe.
Vermutlich war der junge Araber durch das Geschrei
und die Flüche aufmerksam geworden, denn plötzlich
drehte er sich um, und für einen Sekundenbruchteil
kreuzte sein Blick den des Geiers, der die Treppe hin-
aufrannte. Unbewußt bekam Mouss es mit der Angst zu
tun und ging schneller. Schließlich begann er zu laufen,
so als fürchtete er, seinen Anschluß zu verpassen. Um
diese Zeit lief gut ein Zehntel der Fahrgäste, die ihren
Zug nicht verpassen und rechtzeitig zum Beginn des
Spielfilms zu Hause sein wollten. Inmitten der Sprinter,
deren Leben sowohl geographisch als auch zeitlich nach
den Fahrplänen der Züge ausgerichtet war, inmitten der
kurzatmigeren Läufer, die von den Unwägbarkeiten der
Pariser Transportunternehmen abhängig waren, und
der Spaziergänger, der wahren Zombies, die sich mit
unglaublicher Frechheit über alle anderen lustig zu ma-
chen pflegten, fiel Mustapha Moussis Rennerei natür-
lich nicht im geringsten auf.
Er hatte instinktiv gehandelt, wie ein Reh, das plötz-
lich davonläuft, ohne einen Verfolger bemerkt oder ge-
rochen zu haben. Da Mouss nervlich völlig am Ende
war, konnte er solche Reaktionen nicht mehr bewußt
kontrollieren.
Im Laufschritt durchquerte er die Bahnhofshalle, ging
zum Taxistand und stellte sich hinten an der Warte-
schlange an. Immer wieder schaute er sich ängstlich
nach seinem Verfolger um. In regelmäßigen Abständen
fuhren die Taxis vor und luden die zwischen den Me-
tallschranken wartenden Fahrgäste auf. Mouss hatte
nicht mehr viel Bargeld bei sich. Rasch zählte er das we-
nige Geld, das ihm geblieben war. Es würde reichen,
um den Fahrer zu bitten, ihn zu einer anderen, etwas
weiter entfernten, in einem anderen Viertel gelegenen
Metrostation zu bringen.
Vor ihm stand nur noch eine alte Frau mit zwei
schweren Koffern, als er ein Brennen am Hals verspür-
te. Er faßte sich mit der Hand an die schmerzende Stelle
und zog sie blutüberströmt zurück. Um ihn herum er-
klang entsetzliches Geschrei. Mouss drehte sich um,
war unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen, und
streckte hilfesuchend die Hände von sich. Entsetzt, völ-
lig verdutzt wichen die Leute vor ihm zurück. Niemand
begriff, was geschehen war. Mouss taumelte. Das Blut
spritzte in dicken Strahlen aus seiner Kehle. Die Zeugen
dieses abscheulichen Todeskampfes schrien noch lau-
ter, als Mouss plötzlich das Gleichgewicht verlor und
rückwärts zu Boden fiel. Fast berührte seine Hand die
auf dem Asphalt liegende Spielkarte, eine Pikdame, die
Königin Pallas Athene, deren Stahlkanten ihm soeben
die Kehle durchschnitten hatten.
In einiger Entfernung ging Milan ruhigen Schrittes
gegen den Strom der Schaulustigen, die an den Ort des
Zwischenfalls eilten, in Richtung Boulevard davon und
kaute gelassen seinen Kaugummi, der allmählich an
Geschmack verlor. Kein Arzt würde Mustapha Moussi
jetzt noch retten können.
Gedankenverloren blickte er zum MotorSpeed der
Z.S.A. hinüber, das neueste Spezialmodell der Motors,
der langsam auf den Parkplatz des Bahnhofs rollte.
Mirko Milan spuckte seinen nun völlig geschmacklos
gewordenen Kaugummi aus, griff in die Innentasche
seiner Jacke und zog eine neue Karte hervor. Noch eine
Königin. Judith. Herzdame.
Der Geier zuckte mit den Schultern und betrat ein Re-
staurant. Diese Verfolgungsjagd hatte ihm Appetit ge-
macht.
Vor lauter Erschöpfung schlief Hugo Russel seit gut
fünf Minuten in seinem Liegestuhl, als ein kräftiger
Faustschlag in den Magen ihn erneut in die schmerzli-
che Realität zurückholte. Wie durch ein Wunder war
der White Lady ihm zuvor nicht aus der Hand gefallen,
doch nun zerbrach das runde Glas auf den Bodenfliesen
neben dem Swimmingpool.
Russel kniff die Augen zusammen, fluchte und wollte
sich aufrichten. Er stieß gegen den Lauf eines 45er Colts, den ein unglaubliches Mädchen in der Hand hielt. Mit
ihrem grinsenden Gesicht und ihrem steif emporste-
henden Haarkamm, dessen grüne Farbe an den Wider-
schein des Meerwasserschwimmbeckens erinnerte, sah
sie aus wie ein Clown des Hasses. Neben ihr standen
drei Burschen, die dämlich grinsten und einander zu-
zwinkerten. Der einzige Nachtwächter, dem sie auf ih-
rem Weg hierher begegnet waren, lag tot auf dem wei-
ßen Kiesweg. Shelley hatte recht gehabt. Es war ein-
facher gewesen, als sie dachten. Russel schüttelte den
Kopf, schwankte zwischen Wirklichkeit und Alptraum.
»Ich wußte doch,
Weitere Kostenlose Bücher