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Die Geier

Die Geier

Titel: Die Geier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Houssin
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sich in einem bestimmten Moment so
    sehr herbeigewünscht hatte, war plötzlich allzu nah, zu
    fühlbar und derart unerträglich, daß Russel einen letz-
    ten Versuch unternahm, an den Schwimmbeckenrand
    zurückzugelangen. Seine Bewegungen waren hektisch,
    komisch fast, wie die eines jungen Hundes, der sein er-
    stes Bad nimmt. Russel bekam keine Luft mehr. Sein
    Körper war hart wie Stein, schwer wie ein grober Gra-
    nitblock, unglaublich schwer. Plötzlich wurde er von ei-
    ner unabwendbaren Lethargie befallen, von einer selt-
    samen Osmose zwischen verwundetem Fleisch und der
    Marmorstruktur der Sirchos-Villa. Der Schrei, den er
    ausstieß, kam ihm lächerlich schwach und weit entfernt
    vor.
    Mit einer Hand klammerte er sich an den mit Kacheln
    ausgelegten Schwimmbeckenrand. Doch seine Finger
    rutschten wieder ab, und der Arzt tauchte erneut unter.
    Er hatte keine Kraft mehr und war außerstande zu rea-
    gieren. Er beschränkte sich darauf, die gewissermaßen
    bereits nicht mehr existierende Atmung zu unterbre-
    chen - ein letzter, lächerlicher Überlebensinstinkt. Pa-
    radoxerweise wich seine Angst einem seltsamen Gefühl
    äußerster Gelassenheit, Erleichterung und vollkom-
    menster Ausgeglichenheit. Er verflüssigte sich, wurde
    leicht und war mit einem Mal von den Qualen befreit,
    die ihn bis zu diesem Äußersten getrieben hatten.
    Plötzlich spürte er, wie er nach oben gezogen, an die
    Oberfläche gerissen wurde, wie er auftauchte und Au-
    gen und Mund weit aufriß. Mit unglaublicher Kraft zog
    Jimmy O'Neal ihn aus dem Schwimmbecken und legte
    ihn kurzerhand auf den Fliesenboden. Völlig verwirrt
    lag Russel da, heftig atmend und den Sauerstoff in sich
    saugend. Er röchelte wie ein an Asthma erkrankter alter
    Mann.
    »Zu solch später Stunde sollte Monsieur nicht versu-
    chen, neue Rekorde aufzustellen«, sagte der Hausmei-
    ster gelassen und streifte sich die Hemdsärmel wieder
    herunter.
    Phosphoreszierende Lichter tanzten vor Russels Au-
    gen. Er schüttelte sich, versuchte sich aufzurichten und
    brach erschöpft wieder zusammen. Jede Faser seines
    Körpers tat ihm weh. Ein unerträglicher Schmerz, der
    sich in sämtlichen Muskeln ausbreitete und seinen Kör-
    per in nichts als eine Schmerzmasse verwandelte. Er
    verzog das Gesicht und versuchte, sich den Puls zu füh-
    len. Sein Herz schlug beinahe hundertsechzigmal in der
    Minute. Er gab einen eigenartigen Pfeifton von sich,
    legte sich flach auf den Rücken und betrachtete die
    Sterne. Es war eine phantastische Nacht, eine typische
    Florida-Nacht.
    »Kennen Sie das Othello-Spiel, Jimmy?«
    »Nein, Monsieur.«
    »In einem bestimmten Moment des Spiels, wenn Sie
    in große Schwierigkeiten geraten sind, läßt jede Ihrer
    Bewegungen Sie in noch größere Probleme geraten.
    Wenn Sie mit den weißen Steinen spielen, fallen die
    schwarzen über Sie her, und Sie können nichts anderes
    mehr tun, als Ihren Niedergang noch weiter zu be-
    schleunigen und zuzusehen, wie auch Ihr letzter Stein
    definitiv verschwindet ...«
    »Wie ein zwischen wandernden Sanddünen einge-
    schlossener Mann?«
    Russel stützte sich auf den Ellbogen und schaute den
    Hausmeister verdutzt an.
    »Ja, ich kann mir vorstellen, daß das ein ähnliches Ge-
    fühl ist«, sagte er nach einer Weile. »Hatten Sie dieses
    Gefühl schon einmal Jimmy? Je stärker Sie dagegen an-
    kämpfen, um so tiefer werden Sie hineingezogen.«
    Einen Augenblick lang zögerte der Hausmeister.
    »Gewiß spielt Monsieur auf den Muskelkrampf an,
    der ihn mitten im Bassin überrascht hat.«
    Russel schüttelte den Kopf.
    »Nein, Jimmy, ich spreche vom Leben. Von diesem
    eigenartigen Spiel, das sich von der Geburt bis zum Tod
    abspielt. Die Dauer einer Partie ...«
    Seine Herzschläge beruhigten sich. Der Schatten des
    Todes löste sich auf. Es gelang ihm, sich hinzusetzen,
    die Knie an seine Brust zu ziehen.
    ' »Es ist ein Spiel, bei dem die Steine ungerecht verteilt sind, Monsieur«, bemerkte Jimmy und zog seine Weste
    zurecht. »Aber niemand zwingt Monsieur, gegen Geg-
    ner zu kämpfen, die mächtiger sind als er.«
    Russel zog die Nase hoch. Seiner Nacktheit schämte
    er sich nicht mehr im geringsten. Der Schmerz und das
    Herannahen des Todes hatten ihn von allen seinen
    Komplexen befreit.
    »Bitte, Jimmy, nennen Sie mich nicht länger Mon-
    sieur«, flüsterte er. »Das ist doch lächerlich.«
    Diese letzte Bemerkung schien dem Hausmeister
    nicht zu gefallen.
    »Sie sind doch ein intelligenter Mann, Jimmy«,

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