Die Geier
David. »Was bleibt uns noch?«
Rasch überflog Roussel die Liste.
»Die Null-positiv-Leiche und die Augen.«
David schaute kurz auf die Digitaluhr am Armaturen-
brett. Zwei Uhr nachts! Ein unglaublicher Zeitaufwand,
um das Material an den Mann zu bringen, das sie in
knapp einer Stunde gesammelt hatten. Die Geier der
Gewerkschaft kannten jedenfalls keine solchen Proble-
me. Sie waren nicht einmal für den Verkauf ihrer Ware
zuständig. Sie brachten die Organe nur in ihre Zentrale,
wo eine spezielle Abteilung für den Verkauf sorgte und
die Zwischenhändler belieferte. David war so müde
und angespannt, daß er sich einen riesigen Organhan-
del zwischen Grossisten und Kleinhändlern vorstellte,
der gänzlich von Steve Odds beherrscht wurde.
»Im Rothschild-Hospital werden Hornhäute ge-
braucht«, sagte Roussel mit müder Stimme. »Sollten wir
da nicht mal vorbeischauen?«
David nickte.
»Schon unterwegs.«
Einen Augenblick lang schwiegen die beiden Männer.
Dann sagte David plötzlich: »Wir brauchen einen Ver-
käufer. Einen Verkäufer und einen zweiten Wagen. So-
bald der Cherokee voll wäre, übernähme dieser Mann
den Wagen und würde sich um den Verkauf der Organe
kümmern. In dieser Zeit könnten wir weiterarbeiten.«
Fassungslos schloß Roussel die Augen.
»Ein Verkäufer ...«, flüsterte er. »Wir wissen nicht
einmal, wie wir unsere Schulden bezahlen sollen, und
du sprichst davon, einen zweiten Wagen zu kaufen und
einen weiteren Mann einzustellen. Was stellst du dir ei-
gentlich vor, David? Man könnte meinen, du wärst dir
unserer momentanen Lage absolut nicht bewußt. Fak-
ten, David, sieh dir doch bloß die Fakten an! Um wieder
auf die Beine zu kommen, brauchen wir täglich zwei
solcher Unfälle wie heute. Zwei pro Tag! Hörst du?«
»Wir müssen einen Weg finden, um den Cherokee
rund um die Uhr in Betrieb zu halten.«
»Das wären zwölf Stunden für jeden von uns bei-
den«, grinste Roussel.
»Genau.«
»Aber das kann doch wohl nicht dein Ernst sein!«
seufzte Roussel.
Der Drucker am Armaturenbrett begann zu knattern.
Die Auseinandersetzungen hatten nun auf Austerlitz
und Bastille übergegriffen und bewegten sich in Rich-
tung Quartier Latin. Alle Sammler der Z.S.A. waren im
Einsatz.
»Was ist nur los, Gerard?« murmelte David. »Was
zum Teufel ist in diesem verfluchten Land nur los?«
Roussel kratzte sich am Kinn. Es wurde höchste Zeit,
sich mal wieder zu rasieren, zu duschen und vor allem
zu schlafen.
David schaltete die Scheinwerfer ein. Schmutziger
Regen besudelte die Windschutzscheibe.
Der Fotograf versteckte sich im Dunkel einer Torein-
fahrt. Am anderen Ende der Straße erhellte ein riesiges,
von Explosionen erschüttertes Flammenmeer die Häu-
serfassaden. Die Sirenen und das Zischen der Granaten
drangen durch die Stille. Der Mann zog ein Taschen-
tuch aus seiner Jackentasche und wischte sich das Ge-
sicht ab. Er sah Schatten über die Straße huschen, hörte
Schreie, Rufe, Schüsse ...
Der Mann drückte sich gegen den Türstock. Schüsse!
Das ist doch nicht möglich! dachte er. Er mußte sie mit
den Detonationen eines Granatwerfers verwechselt ha-
ben.
Erneut beugte er sich nach vorn. Eine Gruppe Mani-
festanten standen um das Feuer. Am anderen Ende der
Straße rückten, Seite an Seite, zwei Schützenpanzer
vor, gefolgt von einer Meute behelmter Polizisten. Ein
Kugelhagel prasselte auf die Maschinen nieder.
Der Fotograf legte einen neuen Film ein. Mit unglaub-
licher Brutalität schossen die Polizisten um sich. Mit zitternder Hand fotografierte der Mann die Szene, Bild um
Bild. Fassungslos sah er, wie ein Manifestant zu Boden
fiel und von einem der Schützenpanzer rücksichtslos
überfahren wurde. In den anderen Straßen ertönten
weitere Schüsse. Das verrückte Knattern eines Maschi-
nengewehrs ...
Der Mann senkte seine Kamera.
»Mein Gott ...«
Als er hinter den Polizisten eine Reihe kleiner Last-
wagen auftauchen sah, erfaßte ihn ein noch größerer
Schrecken. Alle Wagen trugen das Zeichen der Z.S.A.
Die Geier in ihren schwarzvioletten Uniformen luden
die Leiche des überfahrenen Manifestanten auf.
Der Fotograf lehnte sich mit dem Rücken gegen die
Hauswand.
Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter.
Im Rothschild-Hospital erlebten Gerard und David ihre
größte Enttäuschung. Auch wenn der Assistenzarzt, der
für die Lagerung zuständig war, den Unabhängigen
die Organe diesmal noch problemlos
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