Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
Gisbert ließ ihn immerhin in dem Glauben, Baruch von Stralow könne ihn vielleicht noch freikaufen. In Wahrheit glaubte der Tempelritter nicht mehr daran. Baruch hätte sie gleich in Kenntnis gesetzt, wenn seine erneute Intervention erfolgreich verlaufen wäre. Umso verwunderter zeigte sich der Ritter, als sich wieder die Falltür zum Kerker öffnete und jemand etwas herunterrief. Und dann wehte auch noch ein blumiger Duft zu ihm herüber und er vernahm leichte Schritte auf der Stiege.
»Amra!« Magnus erkannte das Mädchen als Erster, und seine Stimme klang beglückt.
»Bonjour, Monseigneurs«, grüßte Amra artig und verbeugte sich vor dem Ritter und dem Knappen. »Ich … also ich …«
Jetzt, da sie es geschafft hatte, versagte ihr die Stimme. Oder vielleicht war es auch nur der Blick auf Magnus, sein wirres blondes Haar, in dem Strohhalme hingen. Amra hätte es gern geglättet, sie spürte fast, wie ihre Finger hindurchglitten. Sicher war es weich und seidig …
»Bonjour, Demoiselle«, gab Gisbert den Gruß zurück. Er bemerkte fast belustigt die Blicke, die zwischen seinem Schützling und dem Mädchen hin und her flogen. »Bringst du Nachricht von Herrn Baruch?«
Amra schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein. Ich … ich bringe nur etwas zu essen …«
Sie schob sich scheu zu den angeketteten Männern vor und stellte den Korb zwischen sie. Magnus warf auch gleich einen Blick hinein. Egal, welches Damoklesschwert über ihnen schwebte, der Junge war sichtlich hungrig.
»Das ist wunderbar, danke!« Magnus griff in den Korb und brach ein großes Stück Brot ab.
Gisbert schüttelte den Kopf. »Magnus!« In seiner Stimme schwang Verständnis, aber auch Tadel mit. Amra beobachtete verwundert, wie er den Korb öffnete, den Inhalt segnete und dann ein paar Worte in einer Sprache sprach, die Amra nicht verstand. Sie wusste allerdings, dass es Latein war.
Magnus faltete die Hände und fiel schuldbewusst ein.
Gisbert unterbrach ihn allerdings noch kurz. »Auch du darfst gern mit uns beten«, lud er Amra freundlich ein. »Ich weiß, du gehörst zu dem Volk, das dem Götzen da draußen huldigt, aber ich denke, unser Gott hat dich zu uns geschickt. Dafür und für Speis und Trank danken wir ihm mit diesem Gebet.«
Amra wusste nicht recht, was von ihr erwartet wurde, doch sie schlug zumindest andächtig die Augen nieder, während die Männer ihren Gott anriefen. Dann hielt sie es nicht länger aus.
»Ich bin nicht nur wegen des Essens hier«, erklärte sie hastig. »Ich … ich bin auch … also, ich will, dass Ihr … dass Ihr flüchtet. Mir ist da etwas eingefallen, ich … ich kann Euch helfen. Ihr müsst nur …«
Magnus stopfte sich heißhungrig Brot und Fleisch in den Mund, während sie ihren Plan kurz umriss, doch Gisbert hatte sich alarmiert aufgesetzt und nahm nur einen Schluck Wein, als Amra endete.
»Und dann, wenn alle auf den Platz schauen und wenn die Priester erschrocken sind und eigentlich das Orakel etwas offenbaren sollte oder der Gott – vielleicht schickt er ja auch einen Blitz, das kann gut sein, oder er lässt es dunkel werden oder spricht zu uns oder … –, jedenfalls wenn alle ihre Aufmerksamkeit von Euch abziehen, dann lauft Ihr fort. Vielleicht müsst Ihr Eure Wächter niederschlagen, aber so schwer kann das nicht sein, wenn sich gerade der Gott zeigt.«
Svantevits Reaktion auf die Schändung seines Heiligtums war die unsichere Stelle in Amras Plan. Sie fürchtete sich vor der Rache des Gottes. Es könnte glimpflich abgehen, er könnte allerdings auch die ganze Burg vor Wut ins Meer spülen. Oder es geschah einfach gar nichts …
Gisbert schien sich darin sicher zu sein. »Der Gott wird sich nicht zeigen, Mädchen, es gibt diesen Gott nicht«, sagte er ruhig. »Eines nicht allzu fernen Tages werden Gläubige sein Bildnis in Stücke hauen, und nicht einmal dann wird sich der Himmel auftun. Aber sonst hast du Recht. Dein Vorgehen dürfte die Anwesenden in Aufregung versetzen, zumal wenn es … wenn es geschieht, nachdem das Blut eines Christen auf dem Tempelplatz vergossen wurde.«
Amra runzelte die Stirn. »Das wollen wir doch gerade verhindern«, meinte sie. »Ihr sollt vor der Opferung fliehen …«
Gisbert schüttelte den Kopf. »Deine Absichten in Ehren, Kind, aber so wird es nicht gehen. Wir können nicht beide entkommen. Wenn du es machst, bevor die Zeremonie beginnt, wird die Aufregung so groß nicht sein. Viele Menschen werden es gar nicht bemerken. Bevor die Hinrichtungen
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