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Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)

Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
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die Glocken geläutet wurden.
    Amra wunderte sich, mit welchem Geschick und welcher Energie Barbara den Kirchturm bis ganz nach oben erstieg. Die kleine, schüchterne Schwester kämpfte sich mit der Kraft der Verzweiflung hinauf.
    »Hörst du mich, Gott?« Barbara schien nicht einmal außer Atem zu sein, als sie die Plattform erreichte. Sie schrie ihre Bitte in den Nachthimmel: »Herr, erbarme dich! Christus, erhöre uns! Gott Vater im Himmel, erbarme dich unser!«
    Die Allerheiligenlitanei.
    Barbara betete die rituellen Worte mit leiser Stimme herunter. »Heilige Mutter Gottes … heilige Engel …«
    »Barbara …«
    Amra blieb auf der obersten Stufe der Stiege stehen und suchte nach Worten. Sie wusste, dass sie die Freundin wegbringen musste. So schnell wie möglich.
    Barbara wandte sich ihr zu, ihr Gesicht glich dem eines Irrsinnigen. »Sie hören nicht zu«, flüsterte sie, breitete dann die Arme aus und rief ihre Verzweiflung noch einmal in den Himmel. »Hört mir zu, ihr da oben! Hör mir zu, Gott!«
    Und ohne dass Amra eingreifen konnte, ergriff Barbara das Glockenseil. Amra meinte, das Trommelfell müsse ihr platzen, als sie sich daranhängte und die Glocke ertönen ließ. Barbara hielt das Seil umfasst und schwang daran hin und her, wie die Glocken über ihr.
    »Das müsst ihr doch hören! Hört mir zu! Hört!«
    Ihre Stimme erstarb, aber sie pendelte immer noch am Seil, das ohrenbetäubend laute Glockengeläut schien sie gar nicht wahrzunehmen. Und dann merkte Amra, dass sie höher und höher schwang, weit über die Plattform hinaus. Und sie hörte auch wieder Barbaras Stimme.
    »Wir fliegen wie die Engel … Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm …«
    Amra vernahm Barbaras Lachen, und im Mondlicht sah sie nun ein Leuchten auf ihrem Gesicht – einen Ausdruck von Glückseligkeit, wie sie ihn schon einmal an der jungen Frau gesehen hatte, damals, als sie Miladin verabschiedet hatte. Barbaras Körper schwang mit dem Glockenseil hin und her – und dann, als es sie hoch hinaustrug, ließ sie los …
    Die Glocken übertönten Amras Aufschrei. Die junge Frau klammerte sich an das Gestänge des Glockenstuhls und blickte mit der Faszination des Entsetzens hinter der weiß gekleideten Gestalt her, die mit ausgebreiteten Armen in die Tiefe stürzte. Barbaras Schleier löste sich, gab langes goldblondes Haar frei. Amra fuhr durch den Kopf, dass sie es eigentlich vor der Profess hätte abschneiden müssen. Aber vielleicht hatte ja auch Barbara noch diesen Traum gehegt, den Traum von der Rettung im letzten Moment, von einem Ritter, der hereinstürmte, sie in die Arme nahm und mit ihr davonritt.
    Amra schlug die Hände vors Gesicht. Sie sah nicht mehr, wie Barbaras Körper auf dem Boden vor der Kirche aufschlug.
    Das Glockengeläut verebbte langsam, während Amra starr vor Entsetzen die Stiege hinunterkletterte. Was sollte sie jetzt tun? Sicher wurden sie und Barbara schon von den anderen vermisst. Die Äbtissin würde außer sich sein und sie Rede und Antwort stehen lassen. Was sollte sie ihr nur sagen? Wie sollte sie ihr nur erklären, was mit Barbara geschehen war? Arme Barbara, armes kleines Ding.
    Amra sah, dass die Kirche voller aufgeregter Schwestern war, die das Schweigegebot offensichtlich vergessen hatten. Die Tür zur Sakristei stand offen – dahinter lag der Garten, in den Barbara gestürzt war. Die Schwester Apothekerin beugte sich über den leblosen Körper …
    »Du warst bei ihr?«
    Amra hatte gerade versuchen wollen, mit der Menge der Schwestern zu verschmelzen, aber Gotlind, die freundliche Kammerschwester, hielt sie auf. Sie musste gesehen haben, dass sie aus dem Turm gekommen war, und vielleicht stand ihr ja auch noch das Entsetzen im Gesicht geschrieben.
    »Sie hat … sie war …«
    Amra wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Hände wanderten fahrig zu ihrem Leib, strichen darüber, als könnte sie das Kind spüren, das eben mit Barbara gestorben war.
    Schwester Gotlind verstand sofort, sie hatte vorher schon Verdacht geschöpft. »Ich hätte es wissen müssen …«, flüsterte sie. »Ich habe ihr den Habit angemessen, ich habe gesehen … Aber wer ahnt denn …« Die Schwester bekreuzigte sich.
    »Ihr hättet auch nichts ändern können«, murmelte Amra und wollte sich ihr entziehen, Schwester Gotlind hielt sie jedoch zurück.
    »Schwester Anna Maria … wenn sie … wenn sie Euch irgendetwas bedeutet hat …«
    Amra horchte auf, als Schwester Gotlind plötzlich die

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