Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
bei der Königin.«
Amra nickte und erzählte ihm dann, was sie von Basima und Dschamila erfahren hatte.
»Vaclav!« In ungewohnter Manier verzerrte sich das Gesicht des Kaufmanns. Es war selten, dass er sich seinen Ärger derart anmerken ließ. »Schon wieder Vaclav! Dieser Jüngling bringt nichts als Verdruss!«
Amra zuckte die Schultern. »Ich werde mit ihm fertig, Herr Baruch. Er ist lästig, aber so viel Macht, dass er mich ungefragt auf sein Lager zerren kann, hat er nicht. Und er will das wohl auch nicht, er hat ganz ehrenwerte Absichten. Basima meint, ich solle in Betracht ziehen, ihn zu heiraten. Also macht Euch keine Sorgen.«
Baruch rieb sich die Stirn. »Vielleicht hat sie da gar nicht so Unrecht. Aber warten wir erst einmal ab, was geschehen wird. Vorerst jedenfalls wüsste ich dich lieber im Inland, weit weg von Arkona. Ich habe es eben dem König mitgeteilt: Der Dänenkönig nähert sich mit seiner Flotte Rujana. Viele Schiffe, viele Männer, ein ganzes Heer ist im Anmarsch, und ich denke, es wird in weniger als drei Tagen hier sein.«
»Und deshalb will der König weg?«, fragte Amra erschrocken. »Er … flieht? Und lässt Arkona in den Händen eines so jungen Ritters wie Vaclav?«
»Und in denen der Priesterschaft …«, sagte Baruch. »Die hat ihn schließlich in diese Situation gebracht. Mit ihren ständigen Provokationen, Menschenopfern, der Prahlerei mit ihrem Tempelschatz. Das bringt die Christen gegen Rujana auf und weckt obendrein Begehrlichkeiten. Dazu die Piraterie und die ständigen Überfälle auf Dänemark. Irgendwann musste Tetzlav den Bogen damit überspannen …«
»Habt Ihr ihm nicht geraten, damit aufzuhören?«, fragte Amra naiv.
Baruch stieß scharf die Luft aus. »Ja, aber das kann er nicht. Weil die Priester sich weigern, dem König einen angemessenen Anteil der Orakeleinnahmen zu geben. Irgendwie muss er seine Hofhaltung finanzieren, aber das, was sonst Zoll heißt und in Handelszentren wie hier an den Fürsten geht, heißt auf Rujana Opfer und geht an die Priester …«
»Aber deshalb … deshalb kann der König uns doch nicht aufgeben!«, meinte Amra entsetzt. »Die Burg, Vitt, Puttgarden …«
Vitt und Puttgarden würden beim Einfall der Dänen direkt geräumt werden. Slawische Burgen waren immer Fluchtburgen, die der Bevölkerung Schutz boten, wenn sich ein Feind näherte. Auf Arkonas weitläufiger Anlage fand sich Platz für alle, und an Korn in den Speichern mangelte es auch nicht.
Baruch zuckte die Schultern. »Karentia ist ja nicht aus der Welt, Kind. Ich denke, Tetzlav lässt es jetzt auf die Volksversammlung ankommen. Die wird ja unweigerlich tagen, wenn die Burg zur Fluchtburg wird.«
In früheren Zeiten hatte die Volksversammlung in slawischen Ländern mehr Macht gehabt, doch heute trat sie nicht mehr regelmäßig zusammen und hatte auch höchstens noch beratende Funktion. Die Entscheidungen trafen König oder Priesterschaft. Und den Machtkampf zwischen sich und Muris gedachte Tetzlav jetzt zu beenden, indem er das Volk entscheiden ließ.
»Wenn die Männer von Vitt und Puttgarden die Priester unterstützen und mit der Tempelgarde kämpfen, kann der König immer noch mit seinen Rittern heransprengen und die Belagerer von hinten angreifen. Was gar keine so schlechte Taktik wäre …«
Baruch fixierte die Wehranlagen der Burg, als plante er jetzt schon die Verteidigung. Als Jude kämpfte er nicht, aber Amra wusste, dass er antike Schriften über Kriegführung gelesen hatte.
»Rechnet Ihr denn mit Krieg? Werden die Männer kämpfen?«, fragte sie ängstlich.
Baruch lächelte. »Sag du’s mir, Amra. Du bist unter diesen Menschen aufgewachsen. Du solltest wissen, wie sie entscheiden werden.«
Amra dachte kurz nach. Dann verzog sich ihr Mund zu einem Grinsen. »Ich weiß, dass sie die Waffen spätestens in dem Moment fallen lassen werden, in dem jemand ›Heringe!‹ schreit.«
Baruch nickte anerkennend. »Da hast du’s«, bemerkte er kurz.
»Also rechnet Ihr nicht mit ernst zu nehmenden Kämpfen? Warum sollte ich dann nach Karentia …?«
Die beiden hatten die Klippe inzwischen erreicht und genossen den Ausblick über den steil abfallenden Kreidefelsen und die darunter liegende, an diesem Tag recht aufgewühlte See. Der Wind befreite ein paar Strähnen aus Amras roten Zöpfen und wirbelte sie in ihr Gesicht.
Baruch hob die Hände, als gäbe er die Frage weiter an seinen Gott. »Kind, es ist immer gefährlich, wenn ein feindliches Heer vor deinen
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