Die Geisha - Memoirs of a Geisha
wußte.
Alle verstummten und warteten auf meine zweite Geschichte. Sie ging mir im Kopf herum, seit wir mit dem Spiel begonnen hatten, aber ich war sehr nervös und auch unsicher, ob es richtig war, sie zu erzählen.
»Einmal, als Kind«, begann ich, »war ich eines Tages sehr traurig; ich ging ans Ufer des Shirakawa-Baches und fing an zu weinen…«
Als ich mit dieser Geschichte begann, hatte ich fast das Gefühl, als streckte ich den Arm über den Tisch aus, um die Hand des Direktors zu berühren. Denn mir schien, als würde kein anderer im Zimmer an dem, was ich sagte, etwas Besonderes finden, während der Direktor diese sehr persönliche Geschichte sofort verstehen würde – wenigstens hoffte ich das. Ich hatte das Gefühl, als führte ich ein weit intimeres Gespräch mit ihm, als wir es jemals geführt hatten, und ich spürte, wie mir beim Sprechen warm wurde. Kurz bevor ich weitersprach, blickte ich auf und erwartete zu sehen, daß mich der Direktor fragend anblickte. Doch er schien mir nicht einmal zuzuhören. Plötzlich fühlte ich mich unendlich enttäuscht, fast so wie ein kleines Mädchen, das sich für eine begeisterte Menge in Positur stellt und majestätisch dahinschreitet, nur um dann erkennen zu müssen, daß die Straße menschenleer ist.
Ich bin sicher, daß alle Anwesenden es inzwischen müde waren, auf mich zu warten, denn Mameha sagte: »Ja – und? Erzähl weiter!« Auch Kürbisköpfchen murmelte etwas, aber ich konnte sie nicht verstehen.
»Ich werde euch eine andere Geschichte erzählen«, sagte ich. »Erinnert ihr euch an die Geisha Okaichi? Sie ist während des Krieges bei einem Unfall ums Leben gekommen. Viele Jahre zuvor unterhielt ich mich eines Tages mit ihr, und sie erzählte mir, sie befürchte ständig, daß ihr eine Holzkiste auf den Kopf fallen und sie töten werde. Und genauso ist sie gestorben. Von einem Regal fiel ihr eine Kiste voll Altmetall auf den Kopf.«
Ich war so in Gedanken versunken gewesen, daß mir erst in diesem Moment klarwurde, daß keine meiner Geschichten wahr war. Sie waren beide teilweise wahr, aber das störte mich nicht besonders, weil die meisten Leute bei diesem Spiel schummelten. Also wartete ich, bis der Direktor sich für eine Geschichte entschieden hatte – es war die von Yoegoro und dem krausen Haar –, und erklärte, er habe recht. Kürbisköpfchen und der Minister mußten zur Strafe ein Glas Sake trinken.
Danach kam die Reihe an den Direktor.
»Ich verstehe mich nicht sehr gut auf diese Art Spiele«, sagte er. »Nicht so gut wie ihr Geishas, die ihr im Lügen ja so geschickt seid.«
»Aber Direktor!« sagte Mameha, doch das war natürlich nicht ernst gemeint.
»Ich mache mir Sorgen um Kürbisköpfchen, deswegen werde ich es euch leichtmachen. Wenn sie noch ein Glas Sake trinken muß, wird sie es, glaube ich, nicht mehr schaffen.«
Es stimmte. Kürbisköpfchen konnte nicht mehr klar sehen. Ich glaube, sie hörte nicht mal, was der Direktor sagte, bis er ihren Namen aussprach.
»Hör gut zu, Kürbisköpfchen. Hier ist meine erste Geschichte: Heute abend ging ich zu einer Party im Ichiriki-Teehaus. Und hier ist meine zweite: Vor ein paar Tagen kam ein Fisch in mein Büro stolziert… ach nein, vergessen wir das. Du glaubst womöglich an gehende Fische. Wie wär’s damit: Als ich vor ein paar Tagen meine Schreibtischschublade öffnete, sprang ein Männlein in Uniform heraus und begann vor meinen Augen zu singen und zu tanzen. Also, was ist – welche Geschichte ist wahr?«
»Erwarten Sie wirklich, daß ich glaube, ein Männlein wäre aus Ihrer Schreibtischschublade gesprungen?« fragte Kürbisköpfchen.
»Wähle einfach eine von beiden Geschichten. Welche ist wahr?«
»Die andere. Ich weiß nicht mehr, wie sie ging.«
»Dafür sollten wir Sie mit einem Glas Sake bestrafen, Direktor«, sagte Mameha.
Als Kürbisköpfchen die Worte ›mit einem Glas Sake bestrafen‹ hörte, muß sie angenommen haben, daß sie etwas falsch gemacht hatte, denn ehe wir uns versahen, hatte sie ein halbes Glas leergetrunken und sah überhaupt nicht mehr gut aus. Der Direktor war der erste, dem das auffiel, deswegen nahm er ihr das Glas aus der Hand.
»Du bist keine Regenrinne, Kürbisköpfchen«, sagte der Direktor. Sie starrte ihn so verständnislos an, daß er sie fragte, ob sie ihn hören könne.
»Mag sein, daß sie dich hört«, sagte Nobu, »aber sehen kann sie dich bestimmt nicht mehr.«
»Nun komm schon, Kürbisköpfchen«, sagte der Direktor.
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