Die Geisha - Memoirs of a Geisha
unbeleuchteten, fast menschenleeren Gegend. Damals wußte ich es nicht, aber die Straßen waren vor allem wegen der Weltwirtschaftskrise so leer; zu jeder anderen Zeit wäre es im Miyagawa-cho-Viertel vermutlich sogar noch belebter gewesen als in Gion. An jenem Abend wirkte es sehr trist, und das war es wohl schon immer. Die Holzfassaden erinnerten zwar an Gion, aber es gab keine Bäume, keinen hübschen Shirakawa-Bach, keine luxuriösen Hauseingänge. Das einzige Licht kam von Glühbirnen in den offenen Haustüren. Dort saßen alte Frauen auf ihren Hockern, neben sich fast immer zwei, drei andere Frauen, die ich für Geishas hielt. Sie trugen Kimonos und Haarschmuck, die denen der Geishas glichen, aber ihr Obi war vorn gebunden statt auf dem Rücken. Das hatte ich noch nie gesehen. Damals wußte ich es nicht zu deuten, aber es ist das Zeichen der Prostituierten: Eine Frau, die ihren Gürtel die ganze Nacht an- und ablegen muß, hat keine Zeit, ihn sich immer wieder hinten zu binden.
Mit Hilfe einer dieser Frauen fand ich das Tatsuyo in einer Sackgasse mit nur drei weiteren Häusern. Alle hatten Schilder neben der Tür hängen. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was ich empfand, als ich das Schild mit der Aufschrift »Tatsuyo« sah, aber mein ganzer Körper schien so sehr zu kribbeln, daß ich fürchtete, jeden Moment zu explodieren. Im Eingang des Tatsuyo saß eine alte Frau auf einem Hocker und unterhielt sich mit einer weit jüngeren, die auf der anderen Straßenseite ebenfalls auf einem Hocker saß– obwohl im Grunde nur die Alte redete. Mit aufklaffendem grauen Gewand und einem Paar Zoris an den Füßen lehnte sie sich an den Türrahmen. Die Zoris waren aus grobem Stroh geflochten, wie man sie auch in Yoroido sah – ganz anders als die schönen Lackzoris, die Hatsumomo zu ihren Kimonos trug. Überdies waren die Füße der Alten nackt, statt mit den glatten Seidensocken bekleidet, die wir tabi nennen. Dennoch streckte sie diese Füße mit den verwachsenen Nägeln aus, als wäre sie stolz darauf und wollte, daß jeder sie zu Gesicht bekam.
»Nur noch drei Wochen, dann seht ihr mich hier nie wieder«, sagte sie gerade. »Die Herrin glaubt, daß ich wiederkomme, aber ich denke nicht daran. Die Frau meines Sohnes wird gut für mich sorgen, weißt du. Klug ist sie nicht, aber sie arbeitet fleißig. Hast du sie nicht kennengelernt?«
»Wenn ja, erinnere ich mich nicht mehr«, sagte die jüngere Frau auf der anderen Straßenseite. »Da wartet übrigens ein kleines Mädchen darauf, mit dir zu sprechen. Siehst du sie nicht?«
Jetzt sah mich die Alte zum erstenmal an. Sie sagte nichts, sondern zeigte mir mit einem stummen Kopfnicken, daß sie mir zuhöre.
»Bitte, Herrin«, sagte ich, »haben Sie hier ein Mädchen namens Satsu?«
»Wir haben keine Satsu«, antwortete sie.
Ich war so erschrocken, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte, doch die Alte wurde auf einmal ohnehin hellwach, denn an mir vorbei hielt ein Mann auf den Hauseingang zu. Sie erhob sich halb und verneigte sich mehrmals mit den Händen auf den Knien. »Willkommen«, sagte sie dabei. Als er ins Haus gegangen war, ließ sie sich wieder auf ihrem Hocker nieder und streckte die Beine aus.
»Warum stehst du immer noch da?« fuhr mich die Alte an. »Ich habe dir doch gesagt, daß wir hier keine Satsu haben!«
»Habt ihr doch«, widersprach die junge Frau von der anderen Straßenseite. »Eure Yukiyo. Die hieß früher einmal Satsu, das weiß ich genau.«
»Mag ja sein«, sagte die Alte, »aber für das Mädchen hier haben wir keine Satsu. Ich werde mir doch nicht für nichts und wieder nichts Probleme aufhalsen.«
Ich wußte nicht, was sie damit meinte, bis die jüngere Frau leise entgegnete, ich sähe nicht aus, als hätte ich einen einzigen Sen bei mir. Und damit hatte sie völlig recht. Die Senmünze – der hundertste Teil eines Yen – war damals noch weitgehend im Umlauf, obwohl man mit einem einzelnen Sen beim Straßenverkäufer nicht mal eine leere Tasse kaufen konnte. Seit ich nach Kyoto gekommen war, hatte ich noch keinen einzigen Sen in die Hand bekommen. Wenn ich Botengänge erledigte, bat ich darum, die Ware auf das Konto der Nitta-Okiya zu setzen.
»Wenn Sie Geld wollen«, sagte ich, »wird Satsu Sie bezahlen«.
»Warum sollte sie bezahlen, um mit Leuten wie dir zu reden?«
»Ich bin ihre kleine Schwester.«
Sie winkte mich zu sich, und als ich gehorchte, packte sie mich bei den Armen und drehte mich um.
»Sieh dir dieses
Weitere Kostenlose Bücher