Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
ließ zwar die Trauer um ihre verstorbene Mutter nach, doch sie hegte zwiespältige Gefühle. Die auserlesenen Schmuckstücke ließen ihr Herz schneller schlagen, das schon. Aber sie musste wehmütig an diese Situationen zurückdenken, wenn sie befürchtete, jeden Augenblick könne die rechtmäßige Besitzerin zurückkehren und sie dabei ertappen, wie sie wieder einmal ungehorsam eine Dame mit Edelsteinen an den Ohren spielte, was bei den Frauen in ihrer Familie verpönt war.
»Eines Tages, wenn ich tot bin, wird der Zeitpunkt kommen, an dem du sie tragen wirst, meine Liebe«, hatte ihre Mutter sie einmal getadelt und alles zurück an seinen Platz gelegt, »aber zuvor musst du sie dir verdient haben.«
Nun nahm Maria del Roser die Schmuckstücke aus der Schatulle und breitete sie auf einem sauberen Tuch vor sich aus. Sie musste eine Auswahl für diesen Abend treffen, den ersten Abend, den sie nach all den ermüdenden Ritualen der Trauer wieder ausging, und auch den ersten Abend, an dem der Schmuck sich an ihre, und nicht die Haut ihrer Mutter, Großmutter oder Urgroßmutter anschmiegen musste. Maria del Roser hegte das Gefühl, ihn nicht verdient zu haben. Sie erblickte in jedem einzelnen Stück nicht Eleganz und Luxus, sondern einen Teil ihrer Mutter. Es schnürte ihr die Kehle zu, als sie plötzlich das näherkommende Brummen von Motoren hörte und sodann einen ungewöhnlichen Aufruhr in der Straße vernahm, der genau vor ihrer Haustür endete. Sie schob die Vorhänge ein wenig zur Seite, um zu erfahren, was da unten los war. Da sah sie tatsächlich König Alfonso XIII. höchstpersönlich mit der Hilfe von einigen ihr durchaus bekannten Herren aus Rodolfos Hispano Suiza aussteigen und schwerfällig die wenigen Stufen zum Hauseingang hochgehen.
Die Hausherrin befürchtete, dass einige der Dienstboten den Eindruck nicht verkraften würden, dem König von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Ihr blieb also keine Zeit, die Pretiosen in das französische Schmuckkästchen zurückzulegen. Sie überprüfte im Spiegel hastig ihr Aussehen, sperrte den kleinen Salon ab und zügelte auf ihrem Weg die Treppe hinunter angemessen ihre Schritte, um diesen so illustren Gast gebührend zu empfangen.
Als sie schließlich den Monarchen im großen Salon erblickte, ruhte dieser mit geschlossenen Augen in einem der Armsessel mit dem gelben Samtbezug, sein Haupt lag zurückgelehnt auf einem Kopfkissen, und mehrere Männer aus seinem Gefolge versuchten, ihm die Stiefel auszuziehen. Der König steckte in einer mit Orden überladenen Uniform, die äußerst unbequem schien. Die Soldaten der königlichen Wache in ihren Galauniformen wirkten wie eine orientierungslose Schafherde, der soeben der Hirte abhanden gekommen war. Den Persönlichkeiten des Gefolges – allesamt Angehörige der besten Familien der Stadt, darunter auch junge Männer im gleichen Alter wie der königliche Gast – verursachte allein schon der Gedanke daran, wie der Vorfall enden könnte, Schweißausbrüche. Die Dienstboten bekreuzigten sich am Treppenabsatz, wo sie neugierig beobachteten, was sich da vor dem Kamin abspielte, um dann schleunigst die dringendsten Aufgaben anzupacken. So verlangte Antonio Maura nach einem Fächer, um dem König Spaniens kühle Luft zu verschaffen. Concha holte eilig den Strohfächer aus dem Sekretär, mit dem sie selbst vor Jahren für ihre Kinder gewedelt hatte, und übergab ihn dem spanischen Ministerpräsidenten.
»Don Alfonso hat einen Schwindelanfall erlitten, der Arme«, flüsterte Rodolfo seiner Gattin ins Ohr, als diese sich zu der Gruppe von der königlichen Ohnmacht verwirrter Seelen hinzugesellte. »Aber das ist bei dem Programm, das sie für ihn organisiert haben, wirklich kein Wunder. Sie haben ihm keine Sekunde Zeit gelassen, um auch nur zur Toilette zu gehen.«
Ein Wagen brachte Dr. Gambús, den Arzt der Familie, der auf alles gefasst war. Bei seiner Ankunft bewegte der König bereits seinen Kopf und delirierte leise vor sich hin. Seine Lippen bebten dabei, wie bei einer nach innen gerichteten Litanei. Mit äußerst besorgter Miene untersuchte der Arzt den Patienten so vorsichtig, als befürchte er, diesen zu zerbrechen. Wie die übrigen Anwesenden war er der Meinung, dass das Alter des Königs eigentlich nicht für eine Ohnmacht sprach. 1908 war Seine Majestät gerade erst zweiundzwanzig Jahre alt, auch wenn er jedes davon sehr wohl ausgekostet hatte.
Während an seiner Genesung weiter gearbeitet wurde und
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