Die Geisterseherin (German Edition)
Gliedmaßen des Gleichgewichts beraubt, stolperte ein paar Schritte vorwärts und fiel dann der Länge nach hin, überschlug sich einige Male und sprang zu Mikoto's Überraschung noch mit Hilfe ihres eigenen Schwungs zurück auf die Füße.
„Das bringt doch nichts, Megumi... muss ich dir noch die Füße kürzen, bevor du zur Vernunft kommst... warum klammerst du dich so an die Vergangenheit, wenn dich doch ein schönes, neues Leben erwartet?“
Megumi's Haare fielen ihr ins Gesicht, durch den Sturz verdreckt und strähnig geworden. Dennoch konnte Mikoto für einen kurzen Moment ihr normales Gesicht hinter der Fratze des Geistes erkennen. Sie war noch da, dachte sie bei sich. Noch war nicht alles verloren, Megumi existierte noch... irgendwo da drinnen.
„Zu sterben, Megumi, ist nicht wirklich schlimm, es ist nur eine weitere Station unserer Reise, ein Neubeginn und die Chance ein besseres Leben zu führen und neue Sachen auszuprobieren. Alles, was du tun musst, ist dem Funken Licht zu folgen, auch wenn es anfangs schwer fällt. Das Rad des Schicksal wird dich auch zu deiner Wiedergeburt leiten...“
„Du... du weißt gar nichts...“, kam leise und zu Mikoto's Überraschung die Antwort.
Es waren die ersten richtigen Worte, die Mikoto von ihr hörte. Zuvor war ihre Stimme mehr ein Kreischen gewesen, dass nur ein verzerrtes und unmenschlich klingendes „STIRB“ hervorbrachte.
Mikoto nutzte diese Entwicklung und redete weiter auf den Geist ein, ohne dabei ihre Deckung zu vernachlässigen.
„Ich weiß, dass der Übergang hier in Ichihara schwieriger ist, als er eigentlich sein sollte. Aber du musst es wenigstens probieren. Du änderst nichts, wenn du ewig hier bleibst, du würdest nur dafür sorgen, dass du noch mehr Schmerzen empfindest... und denen, die du liebst zufügst.“
„Ich kann nicht gehen... er... er hat es mir gestohlen!“ Verzweiflung erklang in Megumi's Stimme, als sie erneut auf Mikoto zu gerannt kam, doch diese machte sich nicht mehr die Mühe sie mit ihrem Schwert anzugreifen. Stattdessen sprang sie nur im letzten Moment einen Schritt zur Seite und gab Megumi, noch immer greifbar wegen ihres Angriffs, einen Tritt, wodurch diese auf die Wiese fiel und auch dort liegenblieb.
Mikoto kam ein paar Schritte näher und rammte ihr Schwert wenige Zentimeter neben der sich windenden Megumi in die Erde. „Wer hat dir etwas gestohlen? Der Mörder von dir? Weißt du, wer dich umgebracht hat? Oder wie du gestorben bist? Sollte das der Fall sein, dann kann ich dir vielleicht sogar helfen.“
Sie konnte Tränen in Megumi's Augen sehen.
„Er hat es mir gestohlen... mein Leben.“, kam leise die Antwort. „Wer?“
Megumi wandte den Kopf zu Mikoto, ihr Gesicht war normal, sämtliche Fratzenzüge eines Stufe-3-Geistes waren aus ihm verschwunden.
„Yuki...“, flüsterte sie leise, trotz allem noch voller Hass. Mikoto sog die Luft ein, doch dann fasste sie sich an die Stirn, als sie es endlich begriff.
„Yuki stiehlt doch dein Leben nicht, Megumi. Das geht auch gar nicht, da du ja tot bist...“
Während Mikoto sprach, versuchte Megumi weiterhin zurück auf die Beine zu kommen, scheinbar vergaß sie total, dass sie als Geist ja auch fliegen konnte... sie hatte wohl den Fakt, dass sie tot war, einfach verdrängt.
„Er... er tut so, als wäre... als wäre er ich. Er lebt mein Leben... er tut, was ich immer tun wollte... er stiehlt es von mir. Ich kann das... nicht zulassen. Ich muss Mutter zeigen... wer die echte Megumi ist. Erst dann... kann ich vielleicht auf die andere Seite.“
Mikoto stellte ihren Fuß auf Megumi, um zu verhindern, dass diese noch einmal aufstand und erneut auf sie los ging. Das ganze ging natürlich nur, weil Megumi noch immer attackieren wollte und sich daher unbewusst berührbar machte.
Das passierte oft, wenn Geister den Sinn für das Wesentliche verloren... Auch Megumi war an einem Punkt, wo sie sich verhielt, wie ein Mensch. Sie schwebte nicht, sie regenerierte ihre Gliedmaßen nicht und sie glitt auch nicht durch Mikoto durch, weil sie so lange tot war, dass sie vergessen hatte, was sie konnte.
„Deine Mutter ist sehr, sehr krank, Megumi. Sie hat deinen Tod nicht verkraftet, ist zusammengebrochen und musste sogar in eine Nervenanstalt. Dein Bruder versucht nur, ihr etwas zu helfen. Das ist der einzige Grund, warum er sich für dich ausgibt... Du darfst deinen Bruder nicht dafür hassen. Er vermisst dich genauso, wie deine Mutter und dein Vater... kein anderer normaler Junge würde
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