Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Und ich glaube, es ist eine typisch deutsche Unart, eine der deutschen Selbstüberhebungen. Der Gegenbegriff zu „slawisch“ ist nämlich „nordisch“ – und wenn Sie das nehmen, wenn Sie durch diese Gegenüberstellung zu einer Art Wertung gezwungen werden, ist sogleich die gewollte Einteilung ersichtlich. Verzeihen Sie, mir wird übel davon. Mir gefiel ja deshalb auch Ihre Literatur, mein lieber May, und ihr letztes Buch „Und Friede auf Erden“, weil Sie darin diese Schranke überwunden haben. Wahre Kunst muss heimatlos sein, sie darf weder Stämmen noch Rassen zugehören, sie kann nicht an Ländergrenzen oder ethnischen Schranken haltmachen. Sie muss, wenn überhaupt einem Einzelnen, dann nur Gott gehören. Doch die wahren Götter der Kunst, ihre wahren Herrscher, dürfen nur Schönheit und Wahrheit sein. Sie sind der Kunst Sonne und Mond. Wahrheit und Schönheit – nichts anderes lasse ich gelten. Und die wahre Heimat jedes Künstlers, sei er Maler oder Musiker, sei er Literat oder Schauspieler, die wahre Heimat jedes Künstlers muss nur die Kunst selber sein.
Ich las, sagte der Maler Schneider, las kürzlich von dem Engländer Oscar Wilde, den ich von allen lebenden Dichtern der Britischen Inseln, ja sogar von allen Europäern nach Ihnen, Verehrter, über alles schätze und verehre, denn er ist für mich auch ein besonderer Bruder im Geiste, ein wahrer Geistesbruder, ich las also ein paar bemerkenswerte Sätze von ihm.
Ich habe sie mir, um sie zu behalten, abgeschrieben. Hier sind sie. Schneider zog einen Zettel aus seinem Jackett, las:
Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge. Die Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verstecken ist die Aufgabe der Kunst. Der Kritiker ist der, der seinen Eindruck von schönen Dingen in eine neue Form oder ein neues Material übertragen kann.
Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art Selbstbiografe! Wer hässlichen Sinn in schönen Dingen findet, ist verderbt, ohne Anmut zu haben. Das ist ein Fehler. Wer schönen Sinn in schönen Dingen findet, gehört zum Reichen der Kultur. Für ihn ist Hoffnung. Die sind die Auserwählten, denen schöne Dinge einzig Schönheit bedeuten. So etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind gut geschrieben oder schlecht geschrieben. Weiter nichts. Das Missfallen des neunzehnten Jahrhunderts am Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht. Das Missfallen des neunzehnten Jahrhunderts an der Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht nicht im Spiegel sieht. Das moralische Leben des Menschen bildet einen Teil des Stoffgebiets des Künstlers, aber die Moralität der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mittels. Kein Künstler will etwas beweisen. Selbst Wahrheiten können bewiesen werden. Kein Künstler hat ethische Sympathien. Eine ethische Sympathie bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils. Kein Künstler ist je dekadent. Der Künstler kann alles ausdrücken. Denken und Sprechen sind für den Künstler Mittel einer Kunst. Laster und Tugend sind für den Künstler Material einer Kunst. Vom Standpunkt der Form ist der Typus aller Künste die Kunst des Musikers. Vom Standpunkt des Gefühls ist das Handwerk des Schauspielers der Typus. Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Wer unter die Oberfläche geht, tut es auf eigene Gefahr. Wer das Symbol deutet, tut es auf eigene Gefahr. Den Beschauer und nicht das Leben spiegelt die Kunst in Wahrheit. Meinungsverschiedenheit über ein Kunstwerk zeugt, dass das Werk neu, vielfältig und bedeutend ist. Wenn die Kritiker uneins sind, ist der Künstler einig mit sich selbst. Wir können einem Menschen verzeihen, dass er etwas Nützliches gemacht hat, solange er es nicht bewundert …
5
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May und Klara saßen stumm und staunend. In welcher Heftigkeit und Wortgewalt es aus dem kleinen, sonst stillen Manne herausgebrochen war, hatten sie nicht erwartet.
Doch Schneider, im Eifer, mit glänzenden Augen, rotglühend, fuhr fort: Nach diesen Worten, lieber May, können Sie erahnen, wie schmerzhaft ich das Gewäsch der Kunstkritik empfinde, von dem ich eben sprach. Diese Schwätzer wissen in Wahrheit nichts über die Kunst und noch weniger über uns Künstler. Sie sind die billigsten Marketender der Kunst. Und ich glaube, der Maler machte eine kleine Pause, ich glaube, für die anderen Künste, auch die Literatur, verhält es sich ebenso …
May nickte
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