Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Silberlöwen und im Surehand gelesen. Ganz reizend, wie begeistert er ist. Schwärmerisch wie ein Kind. Wir sollten ihn, bevor er zu uns nach Radebeul kommt, in seinem Atelier in Meißen besuchen. Gemeinsam. Du und ich. Hast du nicht Lust auf den Geruch von Ölfarben und Terpentin, auf ein Gewirr von Bildern, fertigen und halbfertigen, großen und kleinen, bunten und einfarbigen, und auf einen Menschen, der in seiner künstlerischen Wildheit etwas Faszinierendes hat? Bestimmt ist auch er neugierig auf dich, meine Frau, meine „Khitara“. May lächelte liebenswürdig und reichte Klara die Hand über den Tisch. Sie ergriff die Hand, drückte sie. Wenn es dir Spaß macht, Karl, mein Herzle, komm ich gerne mit. Natürlich freu ich mich auf diesen Menschen.
Wann wollen wir fahren?
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Unaufhaltsam schreitet die Zeit fort, indes immer noch schreibt man das Jahr 1903. Es ist ein Spätsommertag im kleinen, doch allbekannten Städtchen Weimar, der Residenz des Großherzogs, seit zwei Jahren vom Enkel des letzten Fürsten, Wilhelm Ernst, regiert. Es gibt hier im Zentrum, unweit der schönen und weitläufigen Parkanlage des ehemaligen Goethe-Vertrauten Justin Bertuch, eine Straße, die man beinahe schon weltstädtisch nennen könnte.
Es ist die Lassenstraße 1 . Hell und einigermaßen breit, sodass zwei Gespanne bequem nebeneinander passieren können, führt sie in leichten Biegungen von Süd nach Nord, schneidet dabei den eigentlichen engeren Stadtkern im Westen und ist mit wohlbehauenen, im Sonnenlicht silbrig glänzenden Granitsteinen gepflastert. Repräsentative Bürgerhäuser und größere Villen mit gepflegten Vorgärten säumen die Straße. Man errät, hier wohnt das bessere Bürgertum, hier leben Beamte, Professoren und Künstler.
Das Wetter ist schön und lind. Man flaniert auf dem Trottoir, die Damen noch mit Sonnenschirm, die Herren im Strohhut. Droschken und Fuhrwerke rasseln vorüber, sogar eine der lärmenden, stinkenden Benzinkutschen, vom Gejohle und Gepfeife der Schuljugend begleitet, hat man am Vormittag gesehen. Kadetten, oder sind es Gymnasiasten in Uniform. Sie stolzieren rauchend die Straße entlang. Ein paar junge Mädchen drehen sich um und kichern. Ein Diener in Livree führt einen Rassehund aus. Ein Blinder mit dunkler Brille und langem Stock tastet sich vorwärts. Belebt und bunt geht es zu auf der Weimarer Lassenstraße, beinahe weltstädtisch, nur eben alles ein bisschen kleiner, bescheidener, provinzieller als in Städten wie Hamburg, Köln oder Berlin, und die Mundart ist dieses singende Thüringisch, die in der Vorstellung alles sofort einfärbt und schrumpfen lässt auf Fachwerkhäuschen und Trachten, auf Bratwurststände und Schnitzwerk.
Am südlichen Ende der Lassenstraße, vor dem Haus Nummer 3, einem dreigeschossigen Gebäude mit attraktiver Fensterfront und hohem Sandsteinsockel, sehen wir zwei Damen, die, weil sie sich verabredet und jetzt am Hauseingang getroffen haben, herzlich die Hände schütteln und sogar ein paar Wangenküsschen austauschen. Die Damen könnten nicht unterschiedlicher sein. Die eine jung, kaum dreißig, blond, mit einem sinnlichen Zug im hübschen Gesicht, auf das Sorgfältigste gekleidet, schlank und gut gewachsen, die andere über die Mitte der Fünfzig, einen halben Kopf kleiner, die Korsage schneidet in ihr üppiges Fleisch, brünettes, mit der Brennschere gekräuseltes dünnes Haar, auch sie in vornehmen Kleidern, aber man sieht, die Damen haben nicht denselben Schneider. Die jüngere ist die Hofopernsängerin Selma vom Scheidt, immer bereit wie zu einem Auftritt, immer auf Wirkung bedacht, dabei fröhlich, neugierig und voller natürlichem Charme – die andere heißt Marie Veronika Baer, sie ist eine vermögende Kaufmannswitwe, ein Leben lang schon wohnt sie in Weimar, als Kind hat sie noch Franz Liszt gekannt, ihn in seiner langen schwarzen Soutane wandeln sehen, freilich, die Baer, ohne fraulichen Liebreiz, ist ein wenig gewöhnlich und derb, indes, die Damen sind befreundet, man kennt sich seit Langem, und jede schätzt an der anderen, was ihr selber gerade fehlt. Heute haben sie sich verabredet, um eine gemeinsame Freundin aufzusuchen, die im besagten Haus, Lassenstraße Nummer 3, wohnt. Man will ein wenig bei Kaffee und selbst gebackenem Kuchen plaudern, will die Freundin trösten, die es schwer hat nach ihrer Ehescheidung, und vielleicht wird man später noch eine Séance abhalten. Die Freundin kennt sich aus in solchen Séancen, überhaupt in
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