Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
abgesetzt.
Feste Arbeitszeiten einhalten. Keine Zeit verschwenden. Zwischen zwei Kapiteln essen. Viel Kaffee trinken. Ihre Bücher und Notizen auf dem Küchentisch ausbreiten, ohne Angst zu haben, jemanden zu stören. Und schreiben, schreiben, schreiben …
Zuerst der Rahmen.
Wo lasse ich meine Geschichte spielen. Im nebligen Norden oder in der Sonne?
In der Sonne!
Ein Dorf im Süden Frankreichs, in der Nähe von Montpellier. Im zwölften Jahrhundert. Frankreich hat zwölf Millionen Einwohner, England nur eine Million achthunderttausend. Frankreich ist zweigeteilt: auf der einen Seite das Reich der Plantagenêts mit seinen Herrschern Heinrich II. und Eleonore von Aquitanien und auf der anderen Seite das Reich Ludwigs XII., König von Frankreich und Vater des künftigen Philippe Auguste. Der Beetpflug mit schollenwendender Schar hat den starren Hakenpflug abgelöst, und die Ernten werden reicher. Mühlen treten an die Stelle der Handmahlsteine. Die Menschen haben mehr zu essen, die Ernährung wird vielfältiger, und die Kindersterblichkeit sinkt. Auf den Märkten und Messen entwickelt
sich der Handel. Münzen kommen in Gebrauch und entwickeln sich zu einem begehrten Gut. Die Juden werden in den Marktflecken geduldet, aber verachtet. Da es Christen verboten ist, Geld gegen Zinsen zu verleihen, fungieren sie als Bankiers. Die meisten von ihnen sind Wucherer. Sie bereichern sich an der Not der Menschen und sind nicht beliebt. Sie müssen ein Zeichen tragen.
Der einzige Besitz einer adligen Frau ist ihre Jungfräulichkeit, die sie am Tag ihrer Hochzeit darbringt. Für ihren zukünftigen Ehemann ist sie nicht mehr als ein Bauch, der dem Gebären dient. Und zwar Jungen. Er darf seine Liebe nicht zeigen. So lehrt es das Gesetz der Kirche: Wer seine Frau zu leidenschaftlich liebt, versündigt sich, begeht gewissermaßen Ehebruch. Deshalb träumen viele Frauen davon, sich hinter Klostermauern zurückzuziehen. Im elften und zwölften Jahrhundert häufen sich die Klostergründungen.
»Das Werk der Zeugung ist in der Ehe erlaubt, aber bei seiner Frau Wollust nach Art der Huren zu suchen, wird verdammt«, predigt der Priester. Ein sehr wichtiger Mann, der Priester! Was er sagt, ist Gesetz. Sogar der König gehorcht ihm. Ein Mädchen, das ohne Begleitung das Haus verlässt und vergewaltigt wird, wird zu einer Ausgestoßenen im Dorf. Man zeigt mit dem Finger auf sie, und sie darf nicht mehr heiraten. Banden junger Männer streifen durchs Land, führerlose Soldaten, Ritter ohne Burg, ohne Herr, ohne Armee, immer auf der Suche nach einem jungen Ding, an dem sie sich vergehen, alten Leuten, die sie ausrauben können. Es ist eine Zeit großer sozialer Gewalt.
Florine hat all das erkannt. Sie möchte nicht zu den Frauen gehören, die zum Altar geführt werden wie zur Schlachtbank. Obwohl sich die höfische Liebe in den Balladen der Troubadours zu verbreiten beginnt, hört sie in ihrem Dorf kaum etwas davon. Wenn von der Ehe die Rede ist, heißt es, der junge Ritter wolle »genießen und sich niederlassen«, er wolle »eine Frau und einen Besitz«. Sie weigert sich, ein Objekt zu sein. Lieber weiht sie ihr Leben Gott.
Florine begann zu leben. Joséphine sah sie bereits vor sich. Groß, blond, mit ansprechender Gestalt, schneeweißer Haut, einem langen, schlanken Hals, mandelförmigen, von schwarzen Wimpern umrahmten grünen Augen, einer hohen, gewölbten Stirn, einem wunderschönen Teint, klar gezeichneten, rosigen Lippen, roten Wangen
und blondem Haar, das ihr, von einem bestickten Band gehalten, ins Gesicht fällt. Neben all ihren anderen Vorzügen besitzt sie Hände wie von Elfenbein, lange, zarte Hände mit schlanken Fingern wie Wachskerzen, die in schimmernden Nägeln enden. Die Hände eines Edelfräuleins.
Nicht wie die meinen, dachte Joséphine und blickte deprimiert auf die kleinen Häutchen an ihren Nägeln.
Ihre Eltern sind verarmte Adlige, die in einem zugigen, feuchten Bürgerhaus leben. Sie träumen davon, durch die Heirat ihrer einzigen Tochter zu vergangener Größe zurückzukehren. Sie gehören in die dörfliche Welt der Provinz. Sie leben von den mageren Erträgen ihrer Ländereien. Sie besitzen nur noch ein Pferd, einen kleinen Karren, einen Ochsen, Ziegen und Schafe. Doch ein großer Bildteppich mit ihrem Wappen schmückt die Wand in der Stube, in der sie abends alle zusammenkommen.
An einem solchen Abend beginnt die Geschichte …
An einem Abend, in einem kleinen Marktflecken in Aquitanien, im zwölften
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