Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
heraufbeschwor, die sie erfunden hatte, um ihre Schwester in Sklaverei zu halten. Und schon stecke ich mitten in meinem geliebten Mittelalter, dachte Joséphine unter Tränen. Wie der arme Leibeigene, der gezwungen war, dem Burgherrn eine Steuer zu zahlen. Kopfzins nannte man das, vier Deniers, die sich der Leibeigene auf das gesenkte Haupt legte und dem Grundherrn als Zeichen der Unterwerfung darbot. Vier Deniers, die er gar nicht erübrigen konnte und die er dennoch aufbrachte, denn sonst wäre er geschlagen und eingesperrt worden, man hätte ihm das Land weggenommen, das er bestellte, die Suppe … Was macht es schon, dass wir den Kolbenmotor erfunden haben, die Elektrizität, Telefon und Fernseher, die Beziehungen zwischen den Menschen haben sich nicht verändert. Ich war, ich bin und ich werde für alle Zeiten die demütige Leibeigene meiner Schwester sein. Und aller anderen! Heute ist es Hortense, morgen wird es jemand anders sein.
Iris, die annahm, das Thema wäre abgeschlossen, hatte sich wieder auf den Rücken gedreht und plauderte weiter, als wäre nichts geschehen.
»Was machst du an Weihnachten?«
»Ich weiß es nicht…«, brachte Jo mühsam hervor und schluckte
ihre Tränen hinunter. »Hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken! Shirley hat mir angeboten, mit ihr nach Schottland zu fahren …«
»Zu ihren Eltern?«
»Nein … sie will nicht mehr zu ihnen, ich weiß auch nicht, warum. Zu Freunden, aber Hortense mault rum. Sie findet Schottland ›total scheiße‹ …«
»Wir könnten Weihnachten alle zusammen im Chalet feiern …«
»Das wäre ihr ganz sicher lieber. Sie ist so glücklich bei euch!«
»Und ich wäre froh, euch bei uns zu haben …«
»Wollt ihr nicht lieber nur zu dritt feiern? Wir hängen euch ständig auf der Pelle … Irgendwann hat Philippe bestimmt genug davon.«
»Ach, weißt du, wir sind kein frisch verliebtes Paar mehr!«
»Ich muss darüber nachdenken. Das erste Weihnachten ohne ihren Vater!« Sie seufzte. Doch dann durchzuckte sie ein schneidender, unangenehmer Gedanke, und sie fragte: »Kommt Madame auch?«
»Nein … Sonst hätte ich dich doch nicht eingeladen. Ich habe sehr wohl verstanden, dass man euch beide nicht mehr zusammen in einen Raum stecken darf, wenn man nicht gleich die Feuerwehr rufen will.«
»Sehr witzig! Ich denke darüber nach …«
Dann besann sie sich.
»Hast du Hortense schon davon erzählt?«, fragte sie.
»Noch nicht. Ich habe sie nur gefragt, was sie sich zu Weihnachten wünscht, genau wie Zoé …«
»Und hat sie dir gesagt, was sie haben will?«
»Einen Computer … aber sie hat auch gesagt, dass du schon angeboten hast, ihr einen zu kaufen, und dass sie dir keinen Kummer machen möchte. Siehst du, sie kann sehr wohl feinfühlig und rücksichtsvoll sein …«
»So kann man das auch ausdrücken. In Wahrheit hat sie mir das Versprechen, ihr einen zu kaufen, regelrecht abgenötigt. Und ich habe wie üblich nachgegeben …«
»Wenn du möchtest, schenken wir ihn ihr zusammen. Computer sind teuer.«
»Wem sagst du das! Und wenn ich Hortense ein so teures Geschenk mache, was schenke ich dann Zoé? Ich hasse Ungerechtigkeit …«
»Dabei kann ich dir auch helfen.« Sie korrigierte sich: »Mich daran beteiligen … Du weißt, für mich ist das keine große Sache!«
»Und danach will sie ein Handy, einen iPod, einen DVD-Player, eine Kamera … Weißt du was? Ich kann nicht mehr! Ich bin müde, Iris, so müde …«
»Und genau deshalb solltest du dir helfen lassen. Wenn du willst, sage ich den Mädchen auch nichts davon. Ich gebe ihnen ein eigenes kleines Geschenk und überlasse dir die ganze Ehre.«
»Das ist sehr großzügig von dir, aber nein! Das wäre mir unangenehm.«
»Komm schon, Joséphine, entspann dich … Du bist viel zu verkrampft.«
»Ich habe Nein gesagt! Und diesmal werde ich nicht nachgeben.«
Iris lächelte und gab sich geschlagen.
»Wie du willst … Aber vergiss nicht, bis Weihnachten sind es nur noch drei Wochen, nicht mehr viel Zeit, um vorher noch ein paar Millionen zu verdienen … Es sei denn, du spielst Lotto.«
Ich weiß, schimpfte Joséphine stumm. Das weiß ich nur zu gut. Ich hätte meine Übersetzung schon vor einer Woche abgeben sollen, aber der Kongress in Lyon hat meine ganze Zeit in Anspruch genommen. Ich komme nicht mehr dazu, an meiner Habilitationsschrift weiterzuarbeiten, und ich verpasse jede zweite Arbeitssitzung! Ich belüge meine Schwester, indem ich ihr
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