Die Geliebte des gelben Mondes (German Edition)
letzten
Tagen?“
„Nein“, musste ich mir eingestehen.
„Du kannst noch nicht einmal deine Füße ansehen!“,
höhnte mein imaginäres Gegenüber. „Wie willst du da jemals wieder laufen?“
Darauf hatte ich keine Antwort, denn es stimmte;
ich hatte Angst vor dem Anblick, der sich mir bieten würde. Das taube Gefühl
war noch immer da, auch die Schmerzen in den Waden.
Schließlich war ich eingeschlafen; doch kaum
erwachte ich am nächsten Tag, begann ich erneut zu grüblen.
„Ich muss etwas tun!“, ermutigte ich mich selbst
und setzte mich auf.
Lange starrte ich auf die dicken Verbände und
holte schließlich tief Luft. Mit zitternder Hand griff ich nach dem Ende des
einen Verbandes und löste ihn. Lage um Lage wickelte ich ab. Schließlich hatte
ich die letzte vor mir. Mit allem Mut, den ich aufbringen konnte, legte ich
meine Füße frei – oder das, was sie einmal gewesen waren.
Der Anblick, der sich mir bot, trieb mir Tränen in
die Augen und ich schluchzte. Am Ende meiner Beine hingen unförmige,
geschwollene, rosa Klumpen mit dunklen Zehennägeln. Man konnte nicht einmal
ahnen, um was es sich einmal gehandelt hat. Diesen Anblick konnte ich nicht ertragen.
Beinahe hysterisch griff ich nach den alten Verbänden und wollte sie wieder
anlegen. Doch es wollte nicht so recht gelingen. Mehr schlecht als recht war
schließlich alles verpackt. Doch mir war es egal. Das alles hatte mich dermaßen
viel Kraft gekostet, dass ich sehr müde geworden war. Dösend brachte ich den
zweiten Tag ohne Itosu hinter mich.
Am dritten Tag setzte ich mich wieder in den Webgürtel
und arbeitete. So fand mich Itosu vor, als er von seiner Reise zurückkehrte. Er
blickte auf den Webrahmen, dann sah er die schlampig angelegten Verbände.
„Habt Ihr es Euch angesehen?“, fragte er.
Schweigend nickte ich.
„Und wollt Ihr aufgeben oder kämpfen?“ Er sah mich
interessiert an.
Ich schwieg noch immer und zuckte nur mit den Schultern.
„Wenn Ihr Euch entschieden habt, sagt mir
Bescheid.“ Er drehte mir den Rücken zu und packte seinen Beutel aus.
„Ich habe Euren Stoff verdorben“, brach ich schließlich
das Schweigen.
„Habe ich gesehen“, kam zur Antwort.
„Seid Ihr böse auf mich?“
„Nein. Ihr seid es, der den Stoff verdorben
hat, nicht ich. Ihr müsstet böse auf Euch selbst sein. Ihr führt das Schiffchen
durch die Fäden und Ihr bestimmt das Tempo.“ Er hielt kurz inne. „Abgesehen
davon seid Ihr schon nach kurzer Zeit besser geworden, wie ich sehe. Mit Übung
und Wille kann man alles erreichen.“
„Wieso habe ich das Gefühl, Ihr sprecht gerade
nicht über den Stoff?“ Ich legte die Arbeit nieder und wandte mich dem alten
Mann zu. „Wieso sprecht Ihr immer in komplizierten Bildern?“
„Würdet Ihr das Einfache denn verstehen? Ich habe
Euch zu Anfang gesagt, Ihr könnt wieder laufen, wenn Ihr das wollt. Aber Ihr
habt es mir nicht geglaubt. Dabei war das ein einfacher Satz mit einfachen
Worten.“ Er sah mich an und fuhr dann mit dem Auspacken fort.
Schweigend webte ich weiter.
Als Itosu alles verstaut hatte, setzte er sich zu
mir. „Es fehlt nur etwas Fladen. Hattet Ihr keinen Hunger?“
Verlegen sah ich von meiner Arbeit auf. „Als ich
mit dem Weben begonnen hatte, faszinierte es mich so sehr, dass ich darüber den
Tag vergaß. Ich bemerkte den Abend erst, als es schon dunkelte.“
Itosu beobachtete mich und nickte schweigend.
Am nächsten Tag saßen wir gerade beim Essen, als
ich wieder seinen Blick auf mir spürte.
„Was habt Ihr, Meister?“
„Wieso nennt Ihr mich immer Meister , wenn
Ihr nicht gewillt seid, etwas von mir zu lernen?“, fragte er mich.
Ich wurde rot und blickte zu Boden. „Ich habe sie gesehen“, stammelte ich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich damit jemals
wieder etwas anfangen kann.“
„Dann müssen wir an Eurer Vorstellungskraft arbeiten.“
Er griff nach einem Stück Fladen. „Habt Ihr noch Hunger?“
„Vielen Dank, ich bin satt“, lehnte ich ab.
„Woher wisst Ihr das?“
Fragend sah ich ihn an.
„Woher wisst Ihr das?“, wiederholte der alte Mann.
„Nun, ich habe ausreichend gegessen und jetzt
passt nichts mehr in meinen Bauch.“
„Woher wisst Ihr das?“, fragte er zum dritten Mal
und hob eine Augenbraue.
Ich dachte nach. „Ich spüre es“, war meine simple
Antwort.
„Warum habt Ihr dann nicht gespürt, dass Ihr
Hunger hattet, als Ihr am Webgürtel arbeitetet?“
Ich grübelte und begann dann zu begreifen. „Ich
war
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