Die Geliebte des Malers
die Seide des Kleides schimmern. »Wieso haben Sie sich ausgerechnet in San Fransisco niedergelassen?«, fragte sie.
Mit dem Fuß zog Colin einen von den Stühlen heran, ohne den Blick von Cassidys Gesicht zu nehmen. Sie fragte sich, ob er in ihr jetzt die Person sah oder immer noch nur das Modell für sein Gemälde. »Hier stoßen Welten aufeinander. San Francisco ist wie eine Kreuzung. Ich mag die Gegensätze, die ausschweifende Geschichte.«
»Und dass die Stadt stolz auf ihre leicht anrüchige Atmosphäre ist, anstatt nach Rechtfertigungen oder Entschuldigungen zu suchen«, ergänzte Cassidy mit einem Nicken. »Aber fehlt Ihnen Irland denn nicht?«
»Ich fahre von Zeit zu Zeit zurück.« Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher. »Ich brauche das wie die Luft zum Atmen. Hier finde ich die Leidenschaft, dort finde ich den Frieden. Die Seele braucht beides.« Wieder musterte er ihr Gesicht. Das Violett ihrer Augen war dunkler geworden, er konnte all ihre Gedanken von ihrem Gesicht ablesen. Gedanken, die um ihn kreisten. Er wandte sich ab von der unschuldigen Aufrichtigkeit in ihrem Blick. »Trinken Sie Ihren Kaffee aus. Ich will heute noch mit der Silhouette fertig werden. Morgen fange ich an, mit Öl zu arbeiten.«
Der Vormittag verging in fast völligem Schweigen. Cassidy nutzte Colins Versunkenheit in seine Arbeit, um ihn ausgiebig zu betrachten. Die Zeitungen hatten immer wieder sein düsteres Piratenaussehen beschrieben, die durchdringend blauen Augen und seinen dunklen irischen Typ. Doch jetzt, da sie ihn in Fleisch und Blut vor sich hatte, fand sie diesen Mann noch faszinierender. Allerdings wunderte sie sich über sich selbst. Seit wann fand sie Launenhaftigkeit anziehend?
Sie brauchte sich nicht einmal anzustrengen, um wieder die Aufregung zu spüren, die sie erfasst hatte, als Colins Lippen ihre berührt hatten. Sie ging sogar noch einen Schritt weiter und fragte sich, wie es wohl sein mochte, von seinen Armen gehalten zu werden. Und zwar richtig. Auch wenn ihre Erfahrung mit dem anderen Geschlecht kaum erwähnenswert war, so sagte Cassidys Instinkt ihr doch, dass Colin Sullivan ihr gefährlich werden konnte. Er interessierte sie schon jetzt viel zu sehr. Seine anmaßende Art forderte sie heraus, seine Anziehungskraft übte eine magische Wirkung auf sie aus, und seine Unbeherrschtheit reizte sie.
Gails beißender Kommentar über ihre Vorgängerin fiel ihr wieder ein, und sofort sah sie das Bild der energiegeladenen rothaarigen Schönheit vor sich und das Bildnis des schwül-erotischen Modells. Cassidy St. John passte eigentlich in keine dieser Kategorien. Weder war sie auffallend schön noch extrem sinnlich. Weibliche Extreme schienen Colin jedoch anzuziehen, sowohl als Künstler wie auch als Mann.
Cassidy nahm sich zusammen, verärgert über die Richtung, die ihre Gedanken einschlugen. Es würde zu nichts führen, wenn sie sich auf einen Mann wie Colin Sullivan einließ. Distanz wahren, ermahnte sie sich. Nur keine Türen öffnen. Und nicht verletzt werden. Diese letzte Warnung kam aus dem Nichts und überraschte sie.
»Entspannen Sie sich.«
Cassidy lenkte ihren Blick zurück auf Colin. Er starrte versunken auf die Leinwand, völlig konzentriert auf ein Bild, das nur er sehen konnte.
»Ziehen Sie sich um«, ordnete er an, ohne aufzusehen.
Cassidys Blick verdüsterte sich angesichts seines Tons. Unhöflich war ein viel zu harmloses Wort, wollte man Sullivan, den Künstler, beschreiben. Dennoch … Cassidy beherrschte sich und ging in das Umkleidezimmer.
Es ist komplett unnötig, dass ich mir Sorgen mache, sagte sie sich im Stillen und schloss die Tür fest hinter sich. Niemand könnte diesem Mann je nah genug kommen, um verletzt zu werden.
Wenig später kam Cassidy zurück ins Atelier. In ihren eigenen Sachen. Colin stand beim Fenster, die Hände in den Hosentaschen, mit zusammengekniffenen Augen. Was immer er auch sehen mochte: Er war der Einzige, der es sah.
»Ich habe das Kleid hängen lassen«, sagte Cassidy kühl. »Ich gehe dann jetzt. Sie scheinen ja für heute fertig zu sein.« Sie griff nach ihrer Handtasche, doch als sie die Tür ansteuern wollte, nahm Colin ihre Hand und hielt sie fest.
»Da steht wieder diese Falte zwischen Ihren Brauen, Cass.« Mit einem Finger zog er die Linie nach. »Glätten Sie sie, dann lade ich Sie zum Lunch ein.«
Statt sich zu glätten, vertiefte sich die Furche nur noch. »Lassen Sie diesen gönnerhaften Ton, Sullivan. Ich bin kein hohles
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