Die Geliebte des Malers
eines Seetauchers durchbrach die Stille. Die schmale Stegbrücke schwankte unter ihren Füßen. Eine leichte Brise trieb für einen Moment den Nebelvorhang auseinander, und das Hausboot wurde sichtbar.
»Oh Colin.« Cassidy blieb stehen, erstaunt und entzückt. »Das ist ja wunderbar.«
Es war ein altes, rustikales Holzboot auf zwei Etagen mit einem höher gelegenen Deck am Bug. Als sie näher kamen, zog sich der Nebel wieder zu.
Colin schaltete das Licht ein. Sie stiegen zwei Stufen hinunter und gelangten ins Wohnzimmer. In dem großen, eckigen Raum standen eine einladende Couch und vereinzelte Tische. Auf der rechten Seite führten weitere Stufen in die Schiffsküche.
»Was für eine großartige Idee, auf dem Wasser zu leben!« Cassidy schwang mit einem begeisterten Lächeln zu Colin herum.
»An einem klaren Abend gleicht die Stadt mit ihren Lichtern einem Kristall, einem Prisma, in dem sich alle Farben brechen. Und im Nebel scheint sie rätselhaft und eingehüllt in ihre Geheimnisse.« Colin trat zu ihr, schob ihr mit der inzwischen vertrauten Geste das Haar über die Schulter zurück. Er ließ seine Hand, wo sie war.
»Es ist feucht«, murmelte er. »Weißt du eigentlich, wie viele verschiedene Gold- und Brauntöne ich gebraucht habe, um dein Haar zu malen? Es verändert sich ständig, je nachdem, wie das Licht darauf fällt. Es fordert jeden heraus, der es wagt, seine Farbe bestimmen zu wollen.« Er runzelte plötzlich die Stirn und ließ die Hand sinken. »Du zitterst ja. Du solltest einen Cognac trinken, damit dir warm wird.«
Er drehte sich um und ging zum Barschrank. Cassidy sah ihm zu, wie er Cognac in zwei Schwenker goss, während sie versuchte, mit der Wirkung fertig zu werden, die sein sanfter Ton und die zärtliche Berührung seiner Hand auf sie hatte.
Nachdem sie das Glas von ihm angenommen hatte, begann sie, im Raum umherzuwandern. Auf der gegenüberliegenden Wand hing ein Gemälde, das den Sonnenaufgang über der Bucht zeigte. Der Horizont war mit fließenden Farben dargestellt, leuchtendes Gold und sattes Rot. Es strahlte Energie und brillante Kraft aus. Noch bevor Cassidy die Signatur entziffert hatte, wusste sie, dass es sich hier um einen Kingsley handelte.
»Sie ist enorm talentiert«, hörte sie Colins warme Stimme leise hinter sich.
»Ja«, stimmte Cassidy zu und meinte es ernst. Das Bild war ergreifend, wühlte den Betrachter auf. »Ein solcher Tagesanbruch verlangt die volle Aufmerksamkeit eines jeden. Der Sonnenaufgang wäre ganz bestimmt überwältigend, aber ich glaube nicht, dass ich jeden Tag mit solcher Kraft beginnen möchte, ganz gleich, wie schön es auch sein mag.«
»Redest du jetzt über das Gemälde oder über die Künstlerin?«
Ihr wurde klar, dass er genau gewusst hatte, was sie dachte, und so zuckte sie nur mit den Schultern und trat von dem Bild zurück. »Seltsam«, sagte sie. »Man sollte denken, ein Maler würde jeden Zentimeter an seiner Wand mit Bildern bedecken. Du hast hier nur relativ wenige hängen.«
Sie begann sich seine Sammlung genauer anzusehen, ging langsam von einem Gemälde zum nächsten. Wie vom Donner gerührt blieb sie plötzlich vor einem kleinen Bild stehen. Es war die irische Landschaft, von der sie ihm heute Morgen erzählt hatte.
»Ich habe mich schon gefragt, ob du dich noch erinnerst.« Wieder war er hinter sie getreten, und dieses Mal legte er ihr die Hände auf die Schultern. In der Geste lag etwas selbstverständlich Besitzergreifendes.
»Natürlich erinnere ich mich.«
»Ich war gerade zwanzig, als ich es malte. Es war das erste Mal, dass ich wieder in Irland zurück war.«
»Komisch, dass ich es ausgerechnet heute Morgen erwähnt habe«, murmelte Cassidy.
»Schicksal, Cass«, behauptete Colin überzeugt und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Er trat an ihr vorbei und nahm das Gemälde von der Wand. »Ich möchte, dass du es bekommst.«
Cassidys Augen schnellten zu ihm hin. »Nein, Colin, das kann ich nicht annehmen.« Verblüffung und Verlegenheit mischten sich in ihrer Stimme.
»Nicht?« Er zog die Brauen bis unter die Strähnen hoch, die ihm in die Stirn fielen. »Aber es schien dir doch gut zu gefallen.«
»Oh Colin, du weißt, dass es mir gefällt. Es ist wunderschön, einzigartig.« Ihre Verlegenheit wuchs, es war deutlich in ihrer Miene zu sehen. »Aber ich kann doch nicht einfach ein Bild von dir annehmen.«
»Du nimmst es ja nicht. Ich schenke es dir«, stellte er richtig. »Ein Bild zu verschenken ist eines der
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