Die Geliebte des Normannen
Morgengrauen erwachte Mary. Sie hatte so tief geschlafen, dass sie im ersten Moment verwirrt nach Stephens großem, warmem Körper neben sich suchte. Doch schon bald gewahrte sie die Geräusche aus dem Burghof, die sie aufgeweckt hatten, und setzte sich auf. Stephen lag nicht neben ihr; gestern Abend hatte er sie des Verrats bezichtigt und ihr als Bestrafung Arrest auferlegt. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie sich wieder an seine wütende Miene erinnerte. Gestern Abend hatte er seinen Verrat zugegeben. Und draußen hörte sie das aufgeregte Stimmengewirr vieler Männer, stampfende und scharrende Hufe und das Schnauben von Pferden und dazu das Klappern von Sporen und Geschirren, das Ächzen von Leder und Waffengeklirr.
Krieg. Zogen sie heute in den Krieg, in den Krieg gegen ihr Volk?
Mary glitt vom Bett. Sie begann zu zittern, als ihre Füße auf den kalten Steinboden trafen, und trat ans Fenster. Was sie sah, ließ ihren letzten Mut sinken.
An die fünfzig Ritter, alle bewaffnet mit Streitkolben und Schild, Schwert und Lanze und in voller Rüstung, saßen gerade auf. In ihrer Mitte wehte das dreifarbige Banner mit der riesigen roten Rose. Mary schauderte, doch dieses Mal hatte ihre Reaktion wenig mit der Kälte im Raum zu tun. Sie wusste, dass die Streitmacht, die sie vor sich sah, nichts war im Vergleich zu der, die die de Warennes letztlich auf das Schlachtfeld bringen würden. Northumberland hatte Hunderte von Vasallen. Wenn es der Graf für richtig hielt, konnte er an die vierhundert Mann ins Feld führen. Mary wusste das, weil Malcolm ihr es einmal erzählt hatte.
Sie blickte auf das kleine Heer hinunter und fühlte Tränen aufsteigen.
Verzweiflung nagte an ihrem ohnehin gebrochenen Herzen. Sie hatte eine Armee vor sich, die im Begriff war, gegen ihre eigenen Leute ins Feld zu ziehen. Wie konnte er ihr das nur antun?
Diese Heirat war Wahnsinn gewesen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Doch sie dachte auch an die letzten Tage, an Stephens warmherzige Blicke, an sein leichtes Lächeln und wie er sie ansah, wenn er Absichten gehabt hatte. Und sie dachte daran, wie er ihr die Rose geschenkt hatte.
Mary schluckte schwer. Ihr Blick glitt über die Menge unter ihr, und sie suchte zunächst unbewusst, dann mit Vorsatz, ihren Gemahl. Sie fand ihn rasch, denn mit seiner Größe überragte er die Männer um ihn herum, obwohl er noch zu Fuß war. Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge. Er ritt fort, um gegen ihr Volk zu kämpfen; vielleicht würde er sogar mit ihren Verwandten die Klingen kreuzen. Mary schlang die Arme um sich, von Qual erfüllt. Sie fragte sich, ob sie ihm das je würde verzeihen wollen.
Aber sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Er hatte den Helm noch nicht aufgesetzt, sein Gesicht war noch ganz zu sehen, doch aus dieser Entfernung erkannte sie nur, dass seine Miene ernst und grimmig wirkte. Bestimmt spürte er, wie sie ihn beobachtete. Bestimmt wusste er, dass sie ihn beobachtete. Konnte er nicht einmal heraufschauen, nur ein einziges Mal?
Überrascht stellte Mary fest, dass sie trotz ihres schrecklichen Streits gestern noch etwas für ihn empfand. Eine Art Zärtlichkeit. In dieser Situation konnte sie es einfach nicht verleugnen. Schließlich zog er in den Krieg. Er kam ihr irgendwie unsterblich vor, was er natürlich nicht war. Ein Kämpfer konnte in jeder Schlacht zu Tode kommen, und sogar in einem Turnier. Was, wenn er heute verwundet oder gar getötet wurde? Der Gedanke war entsetzlich, er machte sie krank. Spontan lehnte sie sich über den steinernen Sims vor und rief: »Stephen! Stephen!«
Er hörte sie nicht, denn er war mit seinem Knappen in ein Gespräch verwickelt. Mary war bestürzt. Sie atmete schwer, ihr Herz schlug so heftig, dass es wehtat. Sie konnte ihn nicht einfach so ziehen lassen. Wie falsch war es gestern Abend von ihr gewesen, ihn gehen zu lassen! Sie musste seine Aufmerksamkeit unbedingt auf sich ziehen. »Stephen!«, rief sie noch einmal, »Stephen!«
Jetzt hörte er sie und blieb wie angewurzelt stehen. Dann schaute er langsam zu ihr herauf.
Über die Entfernung hefteten sich ihre Blicke aufeinander. Mary wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Sie wollte sagen, dass ihr leidtat, was geschehen war, aber was genau sie bedauerte, das wusste sie nicht – vielleicht die Pattsituation, in die sie sich durch ihr gegenseitiges Misstrauen gebracht hatten; vielleicht auch die Umstände, in denen sie lebten.
Dennoch war sie zornig und entsetzt darüber,
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