Die Geliebte des Normannen
Trottel«, sagte er barsch – und war fort.
»Nein!«, schrie Mary. Nun begriff sie, dass es trotz seiner Heimtücke und seines Verrats nicht so enden durfte. Sie sprang vom Bett und rannte hinter ihm her, hinunter in den Saal. »Stephen! Stephen!«
Aber es war zu spät. Es kam keine Antwort, er war fort. Mary sank zu Boden, von bitteren Tränen und Kummer überwältigt.
19
Mary war für ihren Verrat mit Zimmerarrest bestraft worden. Anfangs hatte ihr das nichts ausgemacht, doch diese Gleichgültigkeit verlor sich rasch. Als ihre Tränen schließlich abklangen, merkte sie, dass es bereits dunkel geworden war, dass der Steinboden unter ihrem Körper schrecklich kalt und sie bis auf die Knochen durchgefroren war. Sie zitterte. Obwohl sie von dem Streit erschöpft und aufgewühlt war, rappelte sie sich auf.
Sie blickte sich in dem kleinen, von Dunkelheit eingehüllten Gemach um. Kein Feuer knisterte im Kamin, keine Kerze brannte, und wenn sie auch nicht hungrig war, so hatte sie doch Durst. Aber es gab keinen Krug mit Wasser. Am liebsten hätte sie ihren Kummer mit einem Becher gewürzten Weines ertränkt. Aber ebenso gut hätte sie Stephen bitten können, zurückzukommen und sie auf Knien um Verzeihung zu bitten.
Mary trat an das Bett, plötzlich erkennend, was ihr Eingesperrtsein wirklich bedeutete. Ihr Gemahl konnte sie sehr wohl leiden lassen, indem er ihr Kälte zumutete und die üblichen Erquickungen wie Nahrung und Wasser entzog. Das konnte sie überleben. Sie fragte sich jedoch, ob sie die Demütigung überstehen würde, die mit ihrer Bestrafung einherging. Schließlich würde jeder in Alnwick bald darüber Bescheid wissen. Inzwischen wussten sicher schon Stephens Familie und sein Gefolge, dass er ihr diesen Arrest auferlegt hatte. Ihr Fehlen beim Abendessen konnte auf jeden Fall nicht unbemerkt geblieben sein. Und Stephen hatte keinen Anlass, den Grund dafür zu verhehlen. Ihre Wangen röteten sich.
Sie war nicht die erste Ehefrau, die solchermaßen beschämt wurde, doch das hatte nichts zu bedeuten. Aber sie hätte nie erwartet, dass es in ihrer Ehe mit Stephen so weit kommen würde! Morgen, wenn er aufbrach, um gegen Schottland in den Krieg zu ziehen, würde ganz Alnwick wissen, dass die neue Burgherrin in ihrem Gemach eingesperrt war. Mary schlang die Arme um sich und fragte sich, wie sie seiner Familie gegenübertreten würde, ja selbst den niedersten Bediensteten.
Es erschien ihr nicht fair. Sie hatte gelauscht, und vielleicht war das falsch gewesen, aber sie hatte nie vorgehabt, ihn zu verraten. Während er sie sehr wohl hintergangen hatte, indem er sie heiratete, obwohl er eigentlich gegen ihre Familie Krieg führen wollte!
Dennoch – sie hatte gelobt, ihn zu ehren und ihm zu gehorchen, und sie wollte dieses Gelübde nicht brechen. Vielleicht würden sie sich von dieser schrecklichen Zeit nie mehr erholen, vielleicht würden sie nie mehr die Freude wiedererlangen, die sie kurze Zeit ausgekostet hatten, doch sie war ungeachtet aller Umstände seine Gemahlin, bis Gott es für richtig befand, sie zu trennen.
Langsam ging sie auf das Bett zu, sie bewegte sich wie eine alte Frau, nicht wegen ihres schmerzenden Körpers, sondern wegen der drückenden Last ihres Kummers.
Zum Glück hatte sie wenigstens eine Decke und ein Fell gegen die Kälte der Nacht. Sie rollte sich darunter zusammen, konnte jedoch nicht einschlafen, so sehr sie das mit dem Schlaf einhergehende Vergessen auch willkommen geheißen hätte. Sie wollte ihrem Gram entfliehen. Oh, wie sehr sie sich wünschte, alles hinter sich lassen zu können! Doch der Streit mit ihrem Gemahl ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie spürte kaum mehr Kraft in sich, nicht genug zumindest, um weiterhin aufgebracht und zornig zu sein; nur Trübsal, Schmerz und Verzweiflung wetteiferten in ihrem Herzen.
Geräusche erreichten ihr Ohr, Laute drangen in ihre quälenden Gedanken; tiefe, männliche Stimmen, die von draußen kamen, von den Mauern. Offenbar waren die Gefolgsleute von Alnwick mit ungewöhnlichen nächtlichen Verrichtungen befasst.
Sie wagte sich nicht vorzustellen, worum es sich handeln könnte. Sie war zu müde. Doch sie merkte, dass sie versuchte, die Stimme ihres Gemahls aus den vielen anderen herauszuhören. Wahrscheinlich war es besser, dass es ihr nicht gelang. Schließlich hatte ihr vorheriger Lauschversuch schon Schlimmes bewirkt.
Sie fragte sich, ob Stephen das Ende ihrer Beziehung überhaupt bedauerte, ob es auch ihn schmerzte.
Im
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