Die Geliebte des Normannen
geritten, so laut und ausgelassen, dass man sie nicht hatte überhören können; dazu waren Hornsignale, fröhliche Stimmen und sogar Gelächter erklungen. Mary hatte auf Stephens Rückkehr gewartet und auch bald damit gerechnet, doch nun war ihre erste Reaktion Entsetzen. Sie verstand sehr gut, was der fröhliche Tumult bedeutete: Die Ritter kamen als Sieger zurück. Carlisle war gefallen.
Wie sollte sie darüber nicht traurig sein? Sie wusste, dass dies erst der Beginn war. Selbst wenn sich die Normannen mit dieser Erweiterung ihres Territoriums zufriedengaben, konnte das nicht das Ende sein. Malcolm hatte ohnehin nie vorgehabt, den Frieden einzuhalten, und nun würde er nach Rache dürsten. Und dieses Mal war er zweifellos doppelt wütend, denn einer der Männer, die ihn hintergangen hatten, war der Gemahl seiner Tochter und darüber hinaus auch noch sein Erzfeind.
Sie wollte nicht mehr über Carlisle und die politische Zukunft nachdenken. Nicht, wenn soeben ihr Gemahl heimge kehrt war. Nicht, wenn er, vielleicht schon jetzt, die Treppe herauf – und auf ihr Gemach zukam. Es war schwer, langsam und gleichmäßig zu atmen und ruhig zu bleiben. Was würde bei ihrem Wiedersehen geschehen? Mary zitterte.
Es war eine halbe Woche her, seit er sie in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, seit sie und Stephen so heftig gestritten hatten. Mary wusste, dass er unverletzt war, denn sie hatte sich nicht zurückhalten können und die Rückkehr der Kämpfer vom Fensterschlitz aus beobachtet. Stephen war ihr sofort aufgefallen, wie er groß und aufrecht auf seinem Streitross saß, voller Schmutz und den Helm in der Armbeuge tragend. Wäre er verwundet worden, dann hätte er nicht so reiten können.
Sie verspürte eine gewisse Erleichterung.
Lange Stunden hatte sie über ihre Gefühle für ihren Gemahl nachgedacht, über ihre vergangene Beziehung und über die Zukunft, die vor ihnen lag. Mary hätte nie geglaubt, dass sie solch einen Mann lieben könnte, aber so sehr es auch schmerzte, sie tat es. Es gefiel ihr nicht, dass sie ihn liebte; wie auch? Nur wegen seiner Gier und seines skrupellosen Ehrgeizes hatte er ihren Vater und ihre Familie hintergangen. Und er hatte sie und ihre Ehe verraten. Das war unverzeihlich. Aber sie würde ihm verzeihen.
Ihr Verzeihen hatte weniger mit Liebe zu tun als mit praktischen Überlegungen. Denn ihre Ehe war unauflöslich, selbst wenn sie ihn hasste, selbst wenn sie ihm nie verzieh, selbst wenn sie sich ihm verweigerte, bis er ihr Gewalt antat, und sich ihm widersetzte, bis er sie schlug. Aber sie liebte ihn, Gott möge ihr beistehen. Deshalb verzieh Mary ihm alles, und sie konnte nur hoffen, dass ihre vernünftige Reaktion auf den Wahnsinn der Situation in naher Zukunft eine Milderung seiner Stimmung und seiner Gefühle bewirken würde.
Weiter denken wollte sie gar nicht. Sie wollte das Ausmaß ihrer Wünsche, ihrer Bedürfnisse und ihrer heimlichen Sehnsüchte gar nicht erforschen. Ein stabiler Friede mit ihrem Gatten genügte ihr. Sie würde ihr Bestes tun, weiterhin für sein Wohlergehen zu sorgen, und vielleicht konnte er eines Tages ihre Loyalität anerkennen. Vielleicht war es ihm möglich, im Lauf der Zeit zu vergessen, dass sie ihn ausspioniert hatte. Vielleicht würde er ihr eines Tages ihre Unschuld glauben. Sie musste danach trachten, ihn von ihrer Unschuld zu überzeugen, denn bisher hatte sie das noch nicht einmal versucht.
Mary zuckte zusammen, als plötzlich die schwere Tür ihres Gemachs aufgeschlossen wurde. Eine schiere Ewigkeit verstrich, bis endlich geöffnet wurde, und Enttäuschung überkam sie, als statt ihres Gemahls ein Knecht auf der Schwelle erschien. Sie blinzelte eine Träne zurück und sah mit Erstaunen, dass eine große, kupferne Wanne in den Raum gebracht wurde – und hinter den Dienern kam Stephen mit Eimern voll dampfenden Wassers.
Mary erstarrte. Sie betrachtete ihn unsicher. Er sah sie nicht an und kam mit müden, langsamen Schritten in den Raum, während sein Knappe ihm bereits beim Ablegen der Rüstung half. Seine Erschöpfung rang ihr eine Reaktion ab, die sie sich angesichts des Widerwillens, den er ihr gegenüber zuletzt gezeigt hatte, lieber erspart hätte. Aber sie konnte nicht anders; ihr Impuls war, auf ihn zuzueilen, ihm zu helfen und ihn zu besänftigen.
Sie tat es nicht.
Mary merkte, dass sie kaum atmete und ihr Herz viel zu schnell schlug. Sie holte tief Luft, um sich zu fassen. Stephen legte die Lederweste ab, die er unter dem
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