Die Geliebte des Normannen
sie sich gesehnt hatte. Mit der Zeit wagte sie auf einen innigen Blick zu hoffen, einen warmherzigen, verweilenden Blick, einen, wie sie schon einmal bekommen hatte. Mit der Zeit würde er ihr vielleicht sogar wieder Geschenke machen, weitere Beweise der Anerkennung, vielleicht sogar seiner Liebe. Vielleicht konnte sie sogar auf eine neue Rose hoffen.
Mehrere Tage vergingen. Mary hatte keine Eile. So lange Stephen sie nachts mit Leidenschaft überhäufte, so lange sie sich tagsüber höflich austauschten, war ihre Ehe auf dem Wege der Besserung.
Der kleine Makel bei all dem bestand in ihrer Schwangerschaft. Sie hatte es ihm noch nicht gesagt. Sie fürchtete sich davor, weil sie es zum einen hasste, unehrlich zu sein. Zum anderen, weil sie zu wissen glaubte, wie er reagieren würde, wenn er die Wahrheit erfuhr. Dieses Mal würde er sie zu Recht eines Betruges bezichtigen. Natürlich würde sie es ihm bald sagen müssen, aber einen Monat wollte sie damit noch warten. Ihre Regel war immer unzuverlässig gewesen, deshalb würde er nicht in der Lage sein, sie des Betrugs zu beschuldigen – auch wenn es das war, aber Mary hatte keine andere Wahl. Noch stand ihre Ehe nicht auf einer festen Basis.
Mary war entschlossen, ihre Leidenschaft aufrechtzuerhalten, denn sie war die einzige Form der Intimität, die sie teilten. Sie spürte, dass Stephen, sobald er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, aufhören würde, mit ihr zu schlafen. Denn so sehr er sich an ihrem Körper erfreute, widerstrebte es ihm, zu kapitulieren, das wusste sie. Er war noch nicht bereit zuzugeben, dass er sie brauchte. Und Mary wollte ihm keinen Grund dafür liefern, ihrem Bett fernzubleiben und seine Freuden anderswo zu finden.
Da sich alles so gut entwickelte, war Mary umso überraschter, als Stephen sie am Vormittag in der Küche aufsuchte. Soweit sie wusste, hatte er diesen Ort noch nie in seinem Leben betreten. Als sie ihn erblickte, blieb sie ebenso wie die Köche und Mägde wie angewurzelt stehen. Seine Miene war düster und grimmig. Mary schwante Böses. Sie drückte die Fleischpastete, die sie gerade begutachtet hatte, einer Magd in die Hand und eilte zu ihrem Gemahl.
»Mylord? Was ist los?«
Sein Lächeln war eine Farce; es drückte bestenfalls Widerwillen aus. Er ergriff ihren Arm und führte sie hinaus.
»Ihr habt einen Besucher, Madame.«
»Einen Besucher?« Mary war überrascht. »Und wen?« Er lächelte erneut, dieses Mal sehr unfreundlich.
»Euren Bruder Edward.«
Mary erbleichte. »Edward?«
Aus Stephens Lächeln war ein Knurren geworden. »Warum seid Ihr denn überrascht, meine Liebe? Habt Ihr diesen Besuch nicht erwartet?«
Alle ihre Schlichtungsversuche waren in höchster Gefahr, sie wusste es. Stephen sah sie an, als sei sie eine widerliche Verräterin.
»Nein!«, schrie sie und packte ihn am Ärmel. »Nein! Nein! Ich habe Edward nicht herbestellt! Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat!«
»Wenn Ihr ihn nicht herbestellt habt, und wenn Ihr nicht wisst, was das bedeutet«, erwiderte Stephen eisig, »dann werdet Ihr es sicher in kürzester Zeit erfahren. Er erwartet Euch im Saal, Madame Gemahlin.«
21
Stephen führte sie aus der Küche hinaus und über den Hinterhof zum Wohnturm. Mary musste sich anstrengen, um mit seinen langen, entschlossenen Schritten mitzuhalten. Er hielt sie fest an der Hand und duldete keinen Widerstand. Es war keine Frage, dass er verärgert war und das Schlimmste dachte.
»Stephen! Bitte, hör auf!«
An der Hintertür, die sonst nur von Bediensteten benutzt wurde, blieben sie stehen. Mary war verzweifelt, sie konnte ihr Unglück nicht begreifen. Edward hätte keinen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können. Warum hatte er nicht erst nächsten oder übernächsten Monat kommen können, wenn Stephen von ihrer Unschuld überzeugt war, oder wenn zumindest ihr Lauschen so weit zurücklag, dass kaum jemand mehr daran dachte? Mary hielt ihre Hoffnung nicht für unangebracht, denn sie glaubte, in etwa einem Monat würde Stephen so weit sein, dass sie danach nicht mehr nur heiße Leidenschaft miteinander teilen, sondern sich auch vertrauen würden.
»Wollt Ihr Euren Bruder nicht begrüßen, Madame?«
»Nein!« Das Wort war aus ihrem Mund, noch ehe Mary es gedacht hatte. Und im selben Augenblick wusste sie, dass sie sich weigern könnte, Edward zu empfangen, und dadurch einen großen Teil von Stephens Vertrauen wiedergewinnen konnte. Sie sollte sich weigern, ihn zu sehen. Wenn sie sich von ihrer Familie
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